20.08.2024 09:40
epd Der Cliffhanger vor einer Werbepause ist dazu da, das Publikum mit der Aussicht auf eine spannende Wendung vom Umschalten abzuhalten. Das gilt auch für dokumentarische Filme, und so verspricht Jenke von Wilmsdorff aus dem Off: "Ich treffe die brutalen Killer der Kartelle." Tatsächlich sieht man den Journalisten neben vermummten Gestalten sitzen und hört ihn ernsthaft folgende Fragen stellen: "Wie foltert ihr? Wie sieht das aus, konkret?" Auf die Antworten muss das Publikum warten, erst mal folgen die Spots für Pudding, Autos, Versicherungen und mehr. Leichte Übelkeit kommt auf bei dem Gedanken, dass die Verantwortlichen des Senders erwarten, dass ihr Publikum von diesem Cliffhanger angefixt wird.
Der vor vier Jahren von RTL zu ProSieben gewechselte Journalist und Autor von Wilmsdorff drehte zuletzt für die Reihe "Jenke. Crime" einen Film über die italienische Mafia. Nun ist das für ausufernde Kriminalität und Korruption berüchtigte Mexiko an der Reihe. Jenke von Wilmsdorff und Autor Timon Modersohn liefern ein eindrucksvolles Beispiel für die Ambivalenz solcher True-Crime-Formate. Denn die reale Gewalt bietet aus sicherem Abstand immer auch Nervenkitzel und Grusel, ist also Fernseh-Unterhaltungsstoff. Und dieses Publikumsinteresse wird hier bedient: mit vielen Zahlen zu Ermordeten und Verschwundenen oder mit der Betonung, wie brutal die Drogenkartelle sind. Das lässt natürlich die Interviews umso mutiger erscheinen, die Kamera unterstreicht das noch einmal, wenn sie beim Gespräch mit einem Kartellmitglied den Sensenmann auf dem Fensterbrett mit ins Bild nimmt.
Da mag die Betroffenheit des nach eigenen Worten "tief bewegten und oft fassungslosen" Presenters von Wilmsdorff noch so aufrichtig sein, in einem solchen Kontext wirkt sie schnell aufgesetzt. Zumal, wenn auch noch versucht wird, das Publikum mit zynischen Cliffhangern bei Laune zu halten.
Immerhin stellt der Film "Die Macht der Kartelle" ein seltenes Stück ausführlicher Auslandsberichterstattung in einem Privatsender dar. Und Jenke von Wilmsdorff kommt viel herum und wagt sich in Kartell-Hochburgen wie Tepito und Culiacán. Er vergisst die Opfer-Perspektive nicht und zeigt mexikanische Mütter, die eigenhändig nach den Leichen ihrer Kinder graben, und er stellt auch die Verbindung zu den Drogenmärkten in Europa und den USA her.
In Bremerhaven blickt der Reporter auf die Arbeit des Zolls und erinnert an deutsche Waffenlieferungen. Dass mexikanische Kartelle auch beim Handel mit Avocados ihre Finger im Spiel haben, ist ebenfalls relevant, allerdings wartet man vergeblich auf nähere Informationen.
Bemerkenswert ist das Beispiel des kleinen Ortes Cherán, wo sich, wie von Wilmsdorff berichtet, die indigene Bürgerschaft mehr Autonomie erkämpft habe. Eine eigene Bürgermiliz sperre seit 13 Jahren erfolgreich an Checkpoints die Gewalt der Drogenkartelle aus. Am Ende sieht man von Wilmsdorff inmitten entspannter Menschen, die sich abends auf dem Dorfplatz treffen. Das entlässt das Publikum nicht ohne Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse. Das friedliche Bild wirkt umso stärker, da zuvor ausgiebig geschildert wurde, wie umfassend die bewaffneten Banden von dem Land Besitz ergriffen haben.
Jenke von Wilmsdorff gibt sich nicht als allwissender Mexiko-Experte aus, auch wenn er Fakten und Grafiken präsentiert und häufig im Bild ist. Die Journalistinnen Sonja Peteranderl und Sandra Weiss sowie der Journalist und Politikberater Falko Ernst liefern fachkundige Analysen und Einschätzungen.
Durch die Straßen von Culiacán, Hauptstadt des Bundesstaats Sinaloa, traut sich von Wilmsdorff nur an der Seite eines einheimischen Kollegen. Plötzlich ist die Innenstadt wie leergefegt, die Ladenbesitzer schließen die Rollläden, weil sich herumgesprochen hat, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen bevorsteht. Von Wilmsdorff, der sich mit einigen gewagten Selbstversuchen im Fernsehen einen Namen gemacht hat, zieht sich auf Anraten des Kollegen lieber ins Hotel zurück.
Mexiko erscheint wie ein gescheiterter Staat, in dem korrupte Politiker von einer wirksamen Bekämpfung der Kartelle absehen und Polizei und Militär als noch gewalttätiger gelten als die Kartelle selbst. Die "Narco-Kultur" mit ihrer Verherrlichung der Gewalt und der Macht getöteter oder verhafteter Drogenbosse durchdringt die Gesellschaft. Die Interviews mit einem Dealer, einem Auftragskiller, einer Waffenhändlerin und einem Drogenkoch laufen alle auf ein Erklärungsmuster hinaus: Armut und fehlende Bildung treiben die Menschen in die Arme der Kartelle, die Aufstieg und schnellen Reichtum versprechen.
Die Gespräche irritieren allerdings, weil die anonymen Täter entweder erstaunlich reflektiert oder aber in Sachen Öffentlichkeitsarbeit geschult wirken. Selbst der vermummte Auftragsmörder ("Sicario"), der sein Gewehr und zwei stumme, ebenfalls bewaffnete Komplizen zum Interview in den Bergen mitgebracht hat, bleibt keine Antwort schuldig. Doch auch wenn da alles journalistisch einwandfrei gelaufen sein sollte, ist es sinnlos und schwer zu ertragen, wenn von Wilmsdorff einen Killer und Folterer vor laufender Kamera fragt: "Kannst du das Leben überhaupt noch genießen?" Es wäre angebracht gewesen, die von den Mördern behauptete Ausweglosigkeit des eigenen Schicksals kritisch zu hinterfragen. So werden Täter zu Opfern stilisiert.
infobox: "Jenke. Crime. Die Macht der Kartelle", Dokumentation, Regie und Buch: Timon Modersohn, Kamera: Jesse Mazuch, Philip Vogts, Produktion: Film Five (ProSieben, 13.8.24, 20.15-22.25 Uhr und bei Joyn)
Zuerst veröffentlicht 20.08.2024 11:40
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KProSieben, Dokumentation, Modersohn, Gehringer
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