22.04.2024 08:00
Aus der Grimme-Jury Information & Kultur
epd Die Frage "Wie geht's?" lässt sich momentan am besten mit "Mir geht's gut, aber die Welt ist scheiße" beantworten. Dass unser Dasein, egal ob als Deutsche, Europäerinnen und Europäer oder Weltenbürgerinnen und Weltenbürger, seit einer Weile wieder von bedrohlichen und anscheinend unlösbaren politischen Konflikten geprägt wird, wirkt sich selbstredend auch auf eine Jurysitzung wie die des diesjährigen Grimme-Preises aus: Die dokumentarischen, kulturellen und informativen Formate, die in der Sektion "Info und Kultur" zur Debatte stehen, spiegeln die aktuellen Probleme.
Von den 17 Produktionen und fünf besonderen journalistischen Einzelleistungen, die unserer Jury nach dem langen Auswahlverfahren der Nominierungskommission zur Evaluation vorlagen, beschäftigte sich direkt oder indirekt eine knappe Mehrheit mit Kriegen und Konflikten.
Ein Film wie die Reportage "Inside Rheinmetall - Zwischen Krieg und Frieden" (ARD/NDR/WDR) von Klaus Scherer etwa beleuchtet die "technischen Seiten", quasi die Vorbereitungen für einen Krieg, die stets auch die Weichen für Sieg oder Niederlage stellen können. Über einen Zeitraum von sechs Monaten hatte der Filmemacher Zugang zu einer Munitionsfirma in Unterlüß - sie produziert unter anderem Waffen, die in die Ukraine geliefert werden könnten, ein Thema, über das aktuell auf höchster politischer Ebene gestritten wird.
Scherer stellt den Chef und die Mitarbeiter der Firma Rheinmetall vor und veranschaulicht ihr berufliches Selbstverständnis, ähnlich einer klassischen "Sachgeschichte" filmt er die Herstellung von Waffen und Munition, fährt im Panzer mit und zeigt den Konzernchef beim Verhandeln mit dem ungarischen Verteidigungsminister.
Ganz nebenbei lernen wir Fachbegriffe wie "Wolfram-Schwermetall-Penetrator", denen die Gefahr jedes Kriegs, aber gleichzeitig auch eine gewisse verzweifelt-ironische Doppeldeutung zum Machtverständnis der meist männlichen Kriegsführer innewohnt. Am Ende haben wir einen zuweilen interessanten Einblick zum Arbeitsalltag und der Berufsethik von Waffenherstellern bekommen, sind uns aber nicht sicher, ob der Film ausreichend journalistische Distanz zu seinem Sujet einhält: Uns fallen die dramatisierend-heroische Musik und die Zeitlupensequenzen auf, in denen die Panzer durch das Gelände preschen.
Die feinfühlige, knapp halbstündige "Monitor"-Reportage "Die Märtyrer-Kinder - Im Herzen des Nahostkonflikts" (ARD/WDR) dagegen schaut auf die Kriegsopfer: Die Reporterinnen Shafagh Laghai und Lara Straatmann hielten sich mit ihrem Team eine Woche lang in Jenin im Westjordanland auf und trafen dort auf Erwachsene, Jugendliche und Kinder, für die der Krieg Alltag ist. Kaum zu ertragen und umso wichtiger zu zeigen ist die furchtbare Selbstverständlichkeit und Geschwindigkeit, mit der aus getöteten Kindern "Märtyrer" werden. Für die Kürze der Zeit ist die Intensität des Films enorm, und auch wir diskutieren vorher, dabei und nachher permanent über die Notwendigkeit der ausgewogenen Berichterstattung gerade in Bezug auf diesen Konfliktschauplatz.
Im Bereich "Spezial" ist ein Kulturformat nominiert, das ebenfalls durch den Nahostkonflikt beeinflusst wurde: Die Macherinnen und Macher von "Tracks East" (Arte) haben schnell reagiert und zeigen in ihren kurzen Sendungen weniger drastische, aber ebenso anrührende Effekte, die der Krieg auf Menschen hat, die im Bereich Kultur und Gesellschaft aktiv sind.
Anderthalb Stunden lang ist der Dokumentarfilm "Stalingrad - Stimmen aus Ruinen", eine Koproduktion von RBB, NDR und Arte. Ausschließlich mit Archivmaterial, Fotos, alten Bewegtbildern sowie nachgesprochenen Briefen und Tagebucheinträgen versucht er sich an einem detaillierten Bild verschiedener Russen und Deutscher, Zivilisten und Soldaten, die vor 80 Jahren Zeugen der Schlacht von Stalingrad waren. Der Monstrosität dieses grauenhaften Kriegszugs mit mehr als einer Million Toten wird der ruhige Rahmen mit den schwarz-weißen Bildern mehr als gerecht - hier melden sich ausschließlich die Betroffenen zu Wort, manche begeistert, manche verstört, sehr viele ängstlich. Der historische Abstand schnurrt angesichts des Angriffskriegs Russlands in der Ukraine zusammen: Die Aussagen der Menschen könnten aktuell sein. Umso ergreifender wirkt der Film.
Mit einem Grimme-Preis zeichnen wir am Ende aber zwei andere Produktionen zu Kriegsgeschehen aus. Das ebenfalls mit historischem Material und Originalaussagen arbeitende Porträt "Drei Frauen - Ein Krieg" (RBB/WDR/Arte) von Luzia Schmid bringt die drei Foto- und Print-Kriegsreporterinnen Martha Gellhorn, Lee Miller und Margret Bourke-White zusammen. Aus rein weiblicher Sicht hat man die Beteiligung der Amerikanerinnen und Amerikaner am Zweiten Weltkrieg bislang selten gesehen - gerade wird das Leben Lee Millers allerdings generell wiederentdeckt: Auch eine aktuelle Filmbiografie beschäftigt sich mit ihr, die erzählerisch sehr konventionelle Produktion zeigt sie als ergriffene und später stark traumatisierte Veteranin.
Schmids Dokumentarfilm dagegen lässt den Frauen ihre eigenen Worte und zeichnet ihre jeweiligen Entwicklungen so zart wie zurückhaltend nach. Vor allem die Autorin Martha Gellhorn findet bedrückende und nachhaltige, zuweilen poetische Formulierungen - die Haltung der Journalistin zu den Themen Patriotismus und Nationalgefühl hat sich mit Kriegsbeginn stark verändert: "Es ist, als ob man Krebs herausschneidet und Tuberkulose übrig lässt", notiert sie nachdrücklich. Und Lee Miller stellt grundsätzlich infrage, was man tun kann und sollte: "Die Europäer sind unmoralisch geworden. Ist Europa es wert, gerettet zu werden?"
Ausschließlich aus der Perspektive der Protagonistinnen werden die Fotodokumente, Briefe, Tagebucheinträge und veröffentlichten Reportagen im Film kompiliert und mit den offiziellen Materialien kombiniert. Es entsteht ein sensiblerer, sehr persönlicher Blick auf Gräuel, Tod und Schrecken, auf Konzentrationslager, Kriegsfronten und Nationalstolz.
Aus einem aktuellen Krieg berichtet Carl Gierstorfer in seinem 60-minütigen Film "Ukraine - Kriegstagebuch einer Kinderärztin" (RBB/Arte). Der Regisseur hat im März letzten Jahres die Medizinerin Wira Primakowa begleitet, die die Intensivstation des Ochmadyt-Kinderkrankenhauses im westukrainischen Lwiw leitet - und sich den herzzerreißenden, teilweise unmöglichen Aufgaben mit beeindruckender Empathie, mit Mut und Durchhaltevermögen stellt.
Primakowa ist eine fantastische Protagonistin, die um ihre jungen Patientinnen und Patienten kämpft, während sie ihre eigenen Kinder vermisst, die an einen vermeintlich sichereren Ort geschickt wurden. Ihr Mann ist derweil im Fronteinsatz. Zwischen Stromausfällen, Zigarettenpausen und dem erdrückenden Leid berichtet die Ärztin pragmatisch vom Verlust der Lebensfreude - und rettet dabei Leben.
Wie jedes Jahr diskutierten wir nicht nur über Formen und Formate, sondern versuchen auch wieder, uns auf Kriterien zu einigen: Geht der Inhalt über die Form? Darf man unterschiedliches Leid, berichtenswerte Ungerechtigkeiten, Kultur- und Gesellschaftsfragen miteinander vergleichen, gar gegeneinander ausspielen? Wie kann man Relevantes wie die Care-Arbeit im Stück "IchDuWir - Wer pflegt wen?" (ZDF/3sat) mit einem ebenso wichtigen Thema wie Gentrifizierung und Stadtentwicklung in der Serie "Capital B - Wem gehört Berlin?" (Arte/RBB/WDR) messen? Kann ein kurzweiliger, schöner und soziologisch hochinteressanter Film wie "Monobloc - Auf der Spur des meistverkauften Möbelstücks aller Zeiten" (NDR) über den Plastikstapelstuhl, der sich seit den 1970ern seuchenartig in der Welt ausgebreitet hat, gegenüber Kriegsberichten oder Ungerechtigkeiten bestehen? Und ohnehin - wie kann man 26-minütige, formal streng an die Vorgaben der Sendung gebundene Beiträge mit anderthalbstündigen freien Dokumentarfilmen vergleichen, wie Serien mit Einzelstücken?
Als besondere Produktion empfinden wir Julian Vogels Trilogie "Einzeltäter" in der ZDF-Reihe "Das kleine Fernsehspiel". Vogel porträtiert Hinterbliebene und Opfer der rechtsextrem motivierten Morde von München 2016, Halle 2019 und Hanau 2020, die angeblich von sogenannten "Einsamen Wölfen" verübt wurden, und stellt die Frage, ob man angesichts der Massierung solcher Straftaten tatsächlich an der Theorie festhalten kann, das seien Fälle von einzelnen verirrten Männern. Sind diese Männer nicht Teile unserer Gesellschaft und stehen darum auch für "uns"?
Die drei Filme sind formal und inhaltlich different, haben verschiedene Schwerpunkte, Perspektiven und Relationen zum Autor. Doch das Ergebnis überzeugt uns - die drei unterschiedlich intimen Betrachtungen sind gerechtfertigt und gleichermaßen anrührend. Wir entscheiden, auch diesen Film mit einem Preis auszuzeichnen.
Das Porträt zweier ehemaliger Autostädte "We are all Detroit: Bochum, eine Stadt im Wandel" (WDR) schauen wir ebenfalls gern, weil es globale Entwicklungen anhand persönlicher Schicksale deutlich macht. Beide Städte florierten einst durch den Autobau, in beiden hat sich vieles, vielleicht alles verändert, in beiden haben Menschen ihre Anstellungen verloren - aber, im Falle einer Familie in Detroit, möglicherweise neue, zukunftsträchtigere Jobs generieren können: Das Pärchen baut Biogemüse an und spricht von Nachhaltigkeit. Die Protagonistinnen und Protagonisten, egal ob in Detroit oder im Ruhrgebiet, sind charmant und unterhaltsam. Wir fragen uns dennoch, wieso in Bochum, dessen migrantische Community größtenteils in der Automobilindustrie arbeitete, nur Menschen ohne Migrationshintergrund zu Wort kommen - und ob ein Film über die Autoindustrie das Thema Mobilitätswende komplett unter den Tisch fallen lassen kann.
Lange diskutieren wir über "Jonny Island" (ZDF/3sat) - das Langzeitporträt eines Waldorfschullehrers, der sich aufgrund seiner Lungenkrankheit während der Corona-Pandemie eine andere Art des Unterrichtens suchen muss, aber dabei auf Widerstände der Behörde, der Lehrerkollegen und Eltern stößt. Aus unserer Sicht werden zu viele Fragen nicht beantwortet, der Film bleibt Erklärungen schuldig.
Aus der 43-minütigen ZDF-Produktion "Milliardenspiel - Die geheime Welt der Superreichen" übernehmen wir fassungslos den Satz eines dort interviewten Millionärs als Running Gag mit in unseren Kommunikationskanon: "Manche Dinge kann man ohne eigenes Flugzeug ja einfach nicht machen", sagt der Mann - und meint es ernst. Der Film erklärt uns viel, und es ist beeindruckend, wie er von der durch den Moderator mühelos hergestellten Nähe zu den Protagonistinnen und Protagonisten immer wieder ins Übergeordnete, in die strukturellen Probleme springt. Doch die ironisch gemeinten Reenactment-Szenen mit einer von Esther Schweins extra überspielten Fake-Investmentberaterin erschließen sich nicht der gesamten Jury: Braucht man diese Art des distanzierenden Zynismus, wenn die Tatsachen an sich bereits so wahnsinnig zynisch sind?
In "König hört auf" (MDR) porträtiert ein Sohn seinen Vater: Regisseur Tilman König begleitet den deutschlandweit bekannten Stadtjugendpfarrer und Aktivisten Lothar König im Jahr von dessen Rückzug aufs Altenteil. Der Film hat eine spürbare Haptik, erzählt viel über Gegenkultur und den Kampf gegen Rassismus in der DDR, der knurrige Mann ist zudem ein starker Protagonist. Die Haltung, die sein Sohn als Filmemacher einnimmt, empfinden wir allerdings nicht immer als kongruent - sehr viele Dinge bleiben ungesagt, unter anderem möchten wir gern mehr über die Familie, über die Konstellationen wissen.
Auch die Motive der Azmari-Sängerin Nardos Wude Tesfaw aus Addis Abeba, von der Heidi Specognas 110-minütiger 3sat-Dokumentarfilm "Erhebe dich, du Schöne" handelt, haben uns abseits des stimmungsvollen Porträts nicht ganz eingenommen - sie möchte einen Song über die Schicksale von Frauen in Äthiopien schreiben und befragt dazu andere Frauen. Jene erzählen beeindruckende, berührende Geschichten - die allesamt stärker auf uns wirken, als es die Rahmenhandlung mit der Sängerin vermag.
Ein langes, hochinteressantes Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze aus der Youtube-Reihe "Jung & Naiv" überzeugte uns stärker in den Antworten als in den Fragen. Und im 85-minütigen Film "Die Karte der Schönheit" von Marco Kugel versucht ein Landschaftsplaner und Wissenschaftler, vermeintlich "schöne" Landschaften zu kategorisieren und mit Hilfe eines eigenen Systems zu kartografieren. Obschon der nachdenkliche Film mit vielen interessanten Protagonistinnen und Protagonisten aufwartet und die Subjektivität der Empfindung untersucht wird, nehmen wir am Ende nicht genug Erkenntnisse mit.
Schnell einigen wir uns dagegen auf einen Grimme-Preis für Cem Kayas 90-minütigen Film "Songs of Gastarbeiter - Liebe, D-Mark und Tod" (WDR/RBB/Arte). Regisseur Kaya zeigt sich zum wiederholten Mal als leidenschaftlicher, energetischer und humorvoller Chronist türkischer Communitys und Subkulturen und stellt in seinem Film die Aufgabe der Kultur in den Vordergrund, Menschen zu vereinen, statt zu spalten.
Der Film widmet sich Musikrichtungen, in denen - weitgehend unbemerkt von der kartoffeligen Öffentlichkeit - fantastische in Deutschland lebende türkische Künstlerinnen und Künstler Lieder über Sehnsucht und Erinnerung, Heimweh und Diskriminierungserfahrungen singen. Postmigrantische Musikerinnen und Musiker setzen die Inhalte heute in moderneren Genres wie Hip-Hop und Rap fort und erzählen von ihren Erfahrungen als Nachkommen der ungastlich behandelten "Gastarbeiter" - auch und erst recht nach den nachhaltig verstörenden Beweisen des Rassismus, der sich unter anderem beim rassistisch motivierten Brandanschlag von Solingen manifestierte. Wir empfinden "Songs of Gastarbeiter" als gleichermaßen politisch relevant, anrührend und mitreißend.
Bei den Einzelleistungen sind die Vergleiche wiederum komplex: Kann man die Arbeit einer Journalistin neben die einer Redaktion stellen? Nach langen Diskussionen einigen wir uns auf einen Preis für die ARD-Journalistin Katharina Willinger, die uns mit ihrer gleichbleibend umfassenden, herausragend recherchierten und vor Expertise sprühenden Korrespondentinnenleistung aus der Türkei und dem Iran überzeugt.
Die Sender, die unsere ausgezeichneten in Auftrag gaben, sind allesamt öffentlich-rechtlich. Sie haben zum Glück einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Und durch diese wichtigen Preise Aufmerksamkeit zu generieren, ist das Mindeste, das wir dazu beitragen können.
Copyright: Foto: fotostudioneukoelln.de Darstellung: Autorenbox Text: Jenni Zylka ist Journalistin, Schriftstellerin und Moderatorin.
Zuerst veröffentlicht 22.04.2024 10:00 Letzte Änderung: 22.04.2024 10:03
Schlagworte: Medien, Grimme, Jurybericht, Preise, Auszeichnungen, Zylka, Information, Kultur, NEU
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