Menschen, die auf Elche starren - epd medien

08.05.2024 12:45

In Schweden ist die große Elchwanderung im Fernsehen seit Jahren ein beliebtes Entspannungsprogramm. Auch RTL+ und GEO haben zwei Wochen lang im Livestream die Wanderung der Elche von der Küste ins Landesinnere gezeigt.

"Die große Elchwanderung" bei RTL und SVT

Elche im Erlebnispark Merkelbach bei Friedrichsbrunn im Harz

epd RTL traut sich was. Zwar nicht zur Primetime und nicht im linearen Programm, aber online gibt der Privatsender dem Slow TV eine Chance. Was in Schweden seit einigen Jahren beliebt ist, soll auch in Deutschland für Quoten sorgen: Zwei Wochen lang hat RTL+ zusammen mit Geo live "Die große Elchwanderung" übertragen, also Echtzeitbilder von den Tieren, die jeden Frühling im Norden Schwedens von der Küste zu üppigeren Regionen landeinwärts ziehen.

Der Anfang ist ziemlich ereignislos. Es passiert nichts. Minutenlange Einstellungen von Nadelbäumen, einem zugefrorenen Fluss, mehr Bäumen im Schnee, dem Bärenplatz (einer Wiese mit einigen zerzausten Bäumen) und einem weiteren Fluss. Zum Glück ist draußen ungemütliches Wetter, sonst würde ich wieder abschalten und lieber selbst Tiere in der Natur beobachten.

Ein Büschel dunkler Haare

Fast befürchte ich, dass der Stream sich aufgehängt hat. Nicht einmal das Wasser oder die Äste der Bäume scheinen sich zu bewegen. Dass die Zeit verstreicht, merke ich nur am Ton: ein sanftes Rauschen.

Bisher ein unspektakuläres Naturspektakel. Es ist schon ein Ereignis, wenn zwei entenartige Schwimmvögel quaken. Nordic-Noir-Assoziationen kommen auf, als eine Einstellung ein Büschel dunkler Haare einfängt, die an einem Baum im Wind wehen, und als sich einige Krähen am Bärenplatz versammeln und gierig irgendwelche Fetzen aufpicken, wahrscheinlich von einem toten Tier.

An die 40 Kameras hat das Team des öffentlich-rechtlichen schwedischen TV-Senders SVT installiert, von dem RTL die Bilder übernimmt. In Schweden ist die Elchwanderung ein nationales TV-Highlight, es wird schon seit Jahren übertragen. Dort gibt es dazu einen Live-Chat, in dem sich manchmal bis zu Tausend Menschen rege austauschen, deutlich interaktiver als hier.

Der Reiz liegt im Beobachten

Am zweiten Tag ist ein Pärchen Schwäne über dem Fluss unterwegs und zieht dort seine Runden. Ich höre sie singen. Du meine Güte! Ich wusste nicht, wie schön das sein kann. Als ich am Nachmittag noch mal kurz einschalte, sehe ich zum ersten Mal einen Elch, nein zwei. Zwar sind sie nicht sehr nah an der Kamera und wegen all der Äste sehe ich nicht viel, aber ich fühle mich trotzdem erfolgreich, als hätte ich selbst auf der Lauer im schwedischen Ångermanland gelegen. So langsam verstehe ich den Reiz: Wenn ich jetzt abschalte, verpasse ich vielleicht die nächste Sichtung.

Eine Followerin aus Schweden erzählt mir bei Instagram, dass ihre Oma ihr regelmäßig Nachrichten schreibt, wenn ein Elch auftaucht, damit sie dann einschalten kann. Das Programm laufe auch in Schulen oder am Arbeitsplatz im Hintergrund. Eine andere Schwedin gesteht, dass sie mit der "Älgvandringen" nicht viel anfangen kann. Ich aber bin jetzt doch angefixt. Mein nächstes Ziel: einen Elch schwimmen sehen. Die von RTL jeden Tag zusammengestellten Highlights gucken gilt aber nicht. Der Reiz liegt ja grade darin, selbst zu beobachten.

Ich komme meinem Ziel nah, als eine Elchkuh kurz vor Ende des zweiwöchigen Übertragungszeitraums im Eis einbricht. Das ist das erste Mal, dass ich hektische Bewegungen in diesem Stream sehe. Normalerweise bewegen sich die Tiere eher in Zeitlupentempo, aber jetzt versucht die Elchkuh mit den Vorderläufen, wieder nach oben zu kommen, bricht jedoch immer wieder ein. Nach kurzer Zeit schafft sie es dennoch triefend wieder heraus und trottet zurück Richtung Ufer. Im schwedischen Stream wird das als "Älgplums" bezeichnet.

Ausflüge in die Natur

Was die Elchwanderung in Schweden so beliebt macht, untersuchen nicht nur Medienkolumnistinnen, sondern auch eine Wissenschaftlerin der Universität Stockholm. Erica von Essen will klären, ob und wie Menschen digital Beziehungen zu den Wildtieren aufbauen. Naturdokumentationen würden immer spektakulärer und konstruierter, doch die Menschen seien auch am alltäglichen Leben der Tiere interessiert, sagt sie in einem Interview auf der Homepage der Uni. Von Essen will auch untersuchen, ob die digitale Beobachtung sich auf die Offline-Welt überträgt und Anstoß für mehr Ausflüge in die Natur, für Engagement im Naturschutz oder Hobbys wie Vogelbeobachtung, Jagen oder Wandern sein könnte.

Ich ziehe jede Offline-Wanderung dem Stream vor - auch wenn die "Älgvandringen" zwischenzeitlich eine gewisse Faszination ausgeübt hat. Vielleicht ist das richtige Thema für das deutsche Publikum aber auch noch nicht gefunden. Es müsse tief in der Kultur des Landes verwurzelt sein, um möglichst viele Menschen zu erreichen, sagte mir der norwegische Slow-TV-Experte Thomas Hellum, als ich vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal zu dem Thema recherchierte. Im ARD-Nachtprogramm gab es früher "Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands" - Zugfahrten, gefilmt aus dem Führerstand. Vielleicht sollten die Sender das wiederbeleben.

Nora Frerichmann Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Nora Frerichmann ist Redakteurin beim epd-Landesdienst West.



Zuerst veröffentlicht 08.05.2024 14:45 Letzte Änderung: 08.05.2024 16:33

Nora Frerichmann

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, RTL+, SVT, Frerichmann, NEU

zur Startseite von epd medien