Gute-Laune-Musik - epd medien

16.05.2024 08:25

Der Auftritt beim Grand Prix Eurovision in Brighton katapultierte die schwedische Popgruppe Abba 1974 in die internationale Berühmtheit. Die ARD-Dokumentation "Abba - Die ganze Geschichte" zeichnet die Karriere der vier Musiker aus Schweden nach.

Mit "Waterloo" gewannen Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad, Benny Andersson und Björn Ulvaeus 1974 in Brighton den Grand Prix Eurovision

epd 50 Jahre ist es her. Und doch fühlt es sich an wie gestern. Der Schreiber dieser Zeilen saß vor dem Farbfernseher, in einem speckigen beigebraunen Ledersessel. Rechts der Vater, schräg hinten die Mutter. Es lief der "Grand Prix Eurovision", aber es hätte alles laufen können, von "Am laufenden Band" bis zum "Großen Preis". Mangels Alternativen schaute man all diese Sendungen, obwohl sie sich ein wenig wie Mehltau auf die Seele legten. Doch der Moment, als die vier Schweden mit ihren Glitzeranzügen loslegten, blieb unvergesslich. Von den ersten Tönen an verfingen die Melodie und der Rhythmus. Es war wie Elektrizität im Ohr. Die übrigen Lieder dieses Songcontests? Nicht die geringste Erinnerung.

Die Dokumentationen über Abba sind kaum noch zählbar. In diesem Film jedoch, den Das Erste anlässlich des Jubiläums ausstrahlte, hebt der preisgekrönte britische Dokumentarist James Rogan speziell jenen magischen Moment hervor, dem die Gruppe ihre Popularität verdankte.

Das musikalische Biopic beginnt und endet mit dem Blick auf ein antiquiertes Tonband, das abgespielt wird. Zu hören ist ein altes Interview des BBC-Journalisten Richard Skinner. Er fragt die Band, warum sie an diesem "Grand Prix Eurovision", heute der "Eurovision Song Contest", überhaupt teilnahm. Die Antwort lässt aufhorchen: Vor der Teilnahme an diesem Wettbewerb habe sich niemand eine Aufnahme aus Schweden anhören wollen. Das Mitwirken an diesem TV-Ereignis sei die einzige Möglichkeit gewesen, aus Schweden rauszukommen. Schweden war im Hinblick auf populäre Musik vor Abba praktisch nicht existent.

Bodenständige Stars

Aus dem Nichts heraus kam dann dieser Auftritt mit "Waterloo", in dem - ähnlich wie bei anderen Großereignissen - auch das Fernsehen zu sich selbst kam. Der Film erinnert daran, dass die vier Schweden die spontane Popularität nutzten, die ihnen die Ausnahmesituation dieser damals unglaublich großen, europaweiten technischen Reichweite von mehreren Hundert Millionen Zuschauern eröffnet hatte. Rogan erzählt vom medialen Zauber der Frühphase des Fernsehens und er erzählt von der privaten Perspektive auf diese bodenständigen Stars. Ein knappes Jahr vor dem großen Durchbruch hatte die Sängerin Agnetha Fältskog ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Ihre Mutterrolle musste sie mit dem Dasein eines durch die Welt jettenden Stars unter einen Hut bringen.

Der Film richtet den Blick auch auf den verbiesterten Zeitgeist der 1970er Jahre. In Schweden, wo 1975 der nächste "Grand Prix Eurovision" stattfand, gab es Demonstrationen gegen Abba. Rogan erinnert daran, dass die britische Musikindustrie mit Abba lange fremdelte. Im Mutterland der populären Musik reagierte man verschnupft auf die vier hinterwäldlerischen Schweden, die offenbar die Matrix des Pops geknackt hatten.

Der Film zeichnet nach, wie Abba den Umweg über Australien nahm. Warum der anschließende Versuch scheiterte, auf dem weltgrößten Musikmarkt, den USA, zu bestehen, dröselt Rogan differenziert auf. Dass die vier Schweden den US-Markt dank des Musicals "Mamma Mia" (und dessen erfolgreicher Kinoadaption) schließlich doch noch eroberten, spart die Dokumentation aus. Rogans Chronik konzentriert sich auf die Phase der großen Erfolge. Eine Wachablösung deutete sich bereits 1977 mit dem Punk an. In einer wundervollen Fußnote zeigt der Film, dass die Bühnenarbeiter der "Sex Pistols" privat keinen Punk hörten, sondern mit Begeisterung Abba.

Routinierte Hochglanzdoku

Erinnert wird natürlich an den gebetsmühlenartig wiederholten Vorwurf, die Musik von Abba sei "kommerziell". Man war seinerzeit entsetzt darüber, dass die Gute-Laune-Musiker aus Schweden nicht entsetzt waren über das Elend in der Welt. Der Blick in den Alltag und auf die Arbeitsweise von Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad, Benny Andersson und Björn Ulvaeus lässt diese klischeehafte Einordnung auf liebenswürdige Weise ins Leere laufen. Mit den ausverkauften Wembley-Konzerten von 1980 wurden die vier Schweden schließlich Kult. Musikkritiker, die Abba zerrissen hatten, krochen zu Kreuze und buhlten nun um VIP-Karten.

Der Film erfindet die Musikdokumentation nicht neu. Das will er auch gar nicht. Wie Asif Kapadia in seinen überzeugenden Dokumentarfilmen über Amy Winehouse und Diego Maradona nutzt auch James Rogan einen unerschöpflichen Pool von Archivmaterial. Fernsehauftritte, Interviews und Mitschnitte aus dem privaten Leben werden so angeordnet, dass der Eindruck entsteht, die Geschichte erzähle sich quasi von selbst. "Abba - Die ganze Geschichte" ist eine routinierte Hochglanzdoku. Von "Waterloo" bis "Dancing Queen" werden alle großen Hits angespielt. Spürbar wird, dass sie selbst nach 50 Jahren nicht aus der Zeit gefallen sind.

infobox: "Abba - Die ganze Geschichte", Dokumentation, Regie und Buch: James Rogan, Produktion: Rogan Productions (ARD/BBC/WDR/SWR/NDR/France Télévisions/SVT, 9.5.24, 22.50-0.20 Uhr und seit dem 2.5.24 in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 16.05.2024 10:25 Letzte Änderung: 22.05.2024 16:23

Manfred Riepe

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Dokumentation, Rogan, Riepe, Musikfilm, Abba, NEU

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