08.06.2024 08:09
epd Was wurde nicht schon alles als "Spiegel der Gesellschaft" bemüht: das Fernsehen, die Schule, die Werbung, die Architektur. Warum also nicht auch die Fußballnationalmannschaft? Tatsächlich drängt sich der Vergleich mit Blick auf die Erfolge bei Weltmeisterschaften geradezu auf, beginnend mit dem "Wunder von Bern" 1954: Da waren wir wieder wer. Oder 1990, als Franz Beckenbauer sein Team nach der Wiedervereinigung "auf Jahre hinaus" für unschlagbar erklärte: "Es tut mir leid für den Rest der Welt." Die Behauptung erwies sich allerdings nur als kolossale Fehleinschätzung.
Oder 2006: Da gewann die Mannschaft zwar nur das Spiel um den dritten Platz, aber das Land zeigte sich bei strahlendem Sonnenschein von seiner besten Seite. "Die Welt zu Gast bei Freunden", vier Wochen Party, ein gänzlich unbefangenes schwarzrotgoldenes Fahnenmeer.
Ergiebiger als der Spiegeleffekt ist jedoch die Wechselwirkung. Infolge der Fragmentierung der Medienlandschaft hat das Fernsehen als Lagerfeuer der Nation ausgedient. Abgesehen vom "Tatort" sorgt einzig die DFB-Elf bei großen Turnieren zuverlässig für zweistellige Millionenzahlen. Wie in einer Liebesbeziehung, in der die alten Gefühle wieder aufflammen, sind die Enttäuschungen der Vergangenheit umgehend vergessen, wenn das Team erfolgreich ist.
Jürgen Klinsmann hat viel beim DFB verändert, als er 2004 Trainer wurde, aber zaubern konnte er nicht. Doch seine junge Mannschaft ließ, wie es im Fußball heißt, ihr Herz auf dem Platz, und prompt sprang der Funke über; ohne die Begeisterung der Fans wäre sie nie ins "kleine Finale" gekommen. Wie Drehbuchautor und Regisseur Manfred Oldenburg diesen wechselseitigen Einfluss in der Magenta TV-Dokumentation "Fußballwunder: Von Bern bis Berlin" herausarbeitet, ist in der Tat faszinierend.
Die beteiligten Kicker schildern vor allem die Stimmung innerhalb der Mannschaft und konkrete Spielszenen (das "Wembley-Tor"). Das ist zwar fesselnd, bietet inhaltlich aber nicht viel Neues. Außerdem ist es durchaus irritierend, dass einige schon länger tot sind, während andere verblüffend jung wirken; erst der Abspann verrät, dass diese Interviews in den Jahren 2003 bis 2006 geführt wurden.
Spannender sind die Beiträge von Marcel Reif und Béla Réthy. Die sportliche Expertise der ehemaligen ZDF-Reporter steht außer Frage, doch sie haben auch das große Ganze im Blick. Beide haben einen biografischen Bezug, den Oldenburg nicht erwähnt: Réthy ist in Brasilien aufgewachsen, er hat das 7:1 bei dem WM 2014 vermutlich mit gemischten Gefühlen kommentiert. Und wenn der gebürtige Pole Reif darüber spricht, wie das polnische Publikum 2014 bei einem Heimspiel gegen Deutschland zur deutschen Nationalhymne applaudiert, ist das mehr als bloß eine Randnotiz: Sein Vater war Jude, sein Großvater und viele weitere Familienmitglieder sind während des Holocausts ermordet worden.
Interessantester Gesprächspartner ist dennoch Wolfram Eilenberger, zumal der Autor und Philosoph ein ungewohntes Gesicht im Sportberichterstattungsumfeld ist. Dank seiner mit sanfter Stimme vorgetragenen, in der Sache aber oft unbequemen Einsichten dient er gewissermaßen als Kronzeuge für Oldenburgs These, in der Nationalmannschaft spiegelten sich "Mentalität und Seele unseres Landes".
Im Idealfall, sagt Eilenberger sinngemäß, verkörpere sie unsere besten Seiten. Dazu zählt der Anstand, mit dem das Team die Niederlage im Finale 1966 akzeptiert hat, sowie der Trost, den es 2014 den Brasilianern spendete, aber eben auch der "Arbeitsfußball" (Réthy), der das Spiel lange geprägt hat; der Panzer-Vergleich der englischen Boulevardpresse war durchaus angebracht. Oldenburg verschweigt auch die Tiefpunkte nicht, etwa die unsäglichen Kommentare zur politischen Situation 1978 in Argentinien oder die brutale Aktion von Toni Schumacher beim WM-Halbfinale 1982 gegen den Franzosen Patrick Battiston: Das sind "nicht nur Zyniker, die sind auch brutal", so Eilenberger.
Mitunter hat der Regisseur auch mal ignoriert, was nicht in sein Konzept passt: Viele junge Deutsche hätten 1974 nichts dagegen gehabt, wenn nicht der Kampfgeist der DFB-Elf, sondern das schöne Spiel der Holländer mit dem WM-Titel belohnt worden wäre. Johan Cruyff wurde als Freigeist ähnlich bewundert wie Günter Netzer. Der spielte bei der WM jedoch keine nennenswerte Rolle.
Das war zwei Jahre zuvor bei der Europameisterschaft, als die Deutschen ihren besten Fußball zumindest des vergangenen Jahrhunderts zelebrierten, noch ganz anders, aber den EM-Sieg 1972 hat Oldenburg, der mit "Das letzte Tabu" (am 11. Juni im ZDF) zuletzt einen sehr sehenswerten Dokumentarfilm über Homosexualität im Fußball gedreht hat, einfach weggelassen.
Gleiches gilt für die Rolle Mesut Özils: Zunächst als Beispiel für vorbildliche Integration gefeiert, musste der gebürtige Gelsenkirchener nach dem kläglichen Vorrunden-Aus in Russland als Sündenbock herhalten. Sein Rassismusvorwurf gegen den DFB ("Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Immigrant, wenn wir verlieren") wird nicht zitiert, dabei hätte er doch ins Gesamtbild gepasst, schließlich ist die "Willkommenskultur" des Jahres 2015 ebenfalls irgendwann in Ausländerhass umgeschlagen. Schade auch, dass es keine internationalen Stimmen gibt, die die Rolle der Nationalmannschaft als wichtiger Botschafter bestätigen.
infobox: "Fußballwunder: Von Bern bis Berlin", Dokumentation, Buch und Regie: Manfred Oldenburg, Produktion: Broadview Pictures (Magenta TV, seit 1.6.24)
Zuerst veröffentlicht 08.06.2024 10:09 Letzte Änderung: 10.06.2024 09:41
Schlagworte: Medien, Sport, Internet, Kritik, Kritik.(Streaming), KMagenta, Fußball, EM, Gangloff, tpg, NEU
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