Erschreckendes Doppelgesicht - epd medien

18.06.2024 09:54

In ihrem Hörspiel "an grenzen" kontrastiert die in Wuppertal geborene Autorin Özlem Özgül Dündar die Hoffnungen und Erfahrungen türkischer Einwanderer mit den Schrecken der Terroranschläge auf Eingewanderte in Deutschland.

epd Manchmal gibt es Begegnungsglück. Einander unbekannte Menschen interessieren sich da füreinander auf den ersten Blick, und dies mit einem "Lächeln, das etwas Zustimmendes hat". So können sie sich mit "Leichtigkeit, Zeit und Offenheit" eventuell näher kennenlernen, ja die "Hände reichen". Beispielhaft vertieft sich Özlem Özgül Dündar am Anfang ihres neuen Hörspiels in eine solche hoffnungsvolle Möglichkeit. Die Autorin beeindruckt hier wie auch sonst mit dem Talent, komplexe Beziehungen und Situationen auf einfache Sätze und Worte zu bringen, die sie gerne in Variationen wiederholt.

Zwei Erzählerinnen aus hörbar verschiedenen Generationen vertreten hier Dündars Schwung und Perspektiven: Cennet Voß, sympathisch jung, energisch und sprühend, Lilay Huser mit lebenserfahrener Stimme und leicht türkischem Akzent.

Mut der ersten Gastarbeitergeneration

Dündars spezifisches erzählerisches Raffinement beginnt damit, dass sie ihren subtilen, fast lyrischen Ansatz mit harten dokumentarischen Fakten kombiniert. Diesmal vergegenwärtigt sie so zunächst den Mut der ersten türkischen Gastarbeitergeneration, die 1955 ihren Entschluss aufzubrechen bürokratisch zu Hause im Arbeitsamt besiegelte, ehe sie nach Deutschland kam. Erwartungsvoll war dann der Empfang in Deutschland, wie hier ein Ausschnitt mit Originaltönen von 1964 aus Köln dokumentiert.

Doch spätere alltägliche Erfahrungen waren dazu angetan, die Immigranten zu desillusionieren. Nicht als Freunde, nur als Arbeitskräfte waren sie willkommen. Statt Begegnungsglück erlebten sie Strapazen am Bau und Leidenswege an Fließbändern. Nach zehn bis zwanzig Jahren Einsatz für den deutschen Wirtschaftsaufschwung, so die Vorstellung, sollten sie dann wieder "dahin verschwinden, wo der Pfeffer wächst".

Hoffnungen auf Sympathie

Dündar, 1983 in Solingen geboren, geht den erwartungsvollen und den schmerzhaften Stationen der Einwanderer nach, auch am Beispiel ihrer Eltern, besonders ihrer Mutter. Von deren verwundeten Fingern und Armen bei der Solinger Produktion metallischer Kleinteile für Autos oder Messer kommt Dündars Stück auf sein zentrales Thema: Es zieht eine persönliche Bilanz der alarmierenden Terroranschläge rechtsextremer deutscher Attentäter gegen "Menschen mit internationaler Geschichte". Nach den NSU-Prozessen und weiteren Attacken breitet es die in fünf Jahrzehnten gewachsene Reihe von Attentatsorten und Opferlisten aus und erreicht dabei eine neue Gewichtung und eigene Wucht. Dündar schafft eine Kontrastdramaturgie, die hiesige Gewaltausbrüche gegen Ausländer noch erschreckender wirken lässt vor dem Hintergrund von deren Hoffnungen auf Empathie und Sympathie.

Modellhaft sind die schönen Zukunftspläne, die im Stück die Arbeitenden machen. Bauspezialisten, wie Dündars Vater (Muhammad-Ali Behboudi), die nicht nur tagaus tagein schwere Zementsäcke schleppen wollten, planten zunächst Besitzerwerb in der Heimat nach der Rückkehr, wo das in Deutschland verdiente Geld ein Haus mit Oliven- und Orangenbäumen finanzieren sollte. Später erwärmten sie sich allmählich für ein Häuschen in Deutschland, efeubewachsen und mit Apfelbäumen, und blieben hier. Doch der Einbürgerungslust und idyllischen Träumen setzten die Schrecken der Brandanschläge gegen Fremde ein Ende.

Radikale Aversion

In mancher Hinsicht setzt nun "an grenzen" Dündars frühes Hörspiel "türken, feuer" (Kritik in epd 18/20) fort, das als Hörspiel des Jahres der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet wurde. Doch während jenes Stück die Solinger Brandstiftung gegen ein türkisches Haus und dessen Wohngemeinschaft als schockierenden Einzelfall durchleuchtete, betrachtet "an grenzen" nun in Weitwinkelperspektive eine belastende Reihe von rechtsextremen Attentaten und diagnostiziert Musterfälle radikaler Aversion gegen Immigranten.

Droht in Deutschland ein Inferno für Eingewanderte? Es fällt auf, dass die Gefahren-Bilanz der Autorin und ihre eigene erfolgreiche Biografie auseinanderklaffen. Zum Glück wurden Özlem Özgul Dündars Begabungen - wie die mancher Immigranten - hierzulande offenbar früh entdeckt und gefördert. Während gleichzeitig Ausländerhass wuchs, konnte sie selbst Bildungs- und Kunstchancen nutzen. Als Autorin, die Begegnungsglück erlebte, bringt sie uns die Leiden ihrer mancherorts angegriffenen und ausgegrenzten Herkunftsgemeinschaft intensiv nahe. So bezeugt "an grenzen" auch das erschreckende Doppelgesicht unserer Gesellschaft.

infobox: "an grenzen", Hörspiel, Regie: Claudia Johanna Leist, Buch: Özlem Özgül Dündar, Komposition: Dirk Dresselhaus (WDR3, 8.6.24, 19.04-20.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 18.06.2024 11:54

Eva-Maria Lenz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Hörspiel, Kritik.(Radio), KWDR, Dündar, Leist

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