Peripherie der Peripherie - epd medien

10.07.2024 08:50

Die Arte-Dokumentation "Ungarn, weit weg von Budapest" zeigt ein eher unbekanntes und unaufgeregtes Ungarn. Christian Bartels sieht darin eine gelungene Version klassischer Dokumentarfilme.

"Ein anderes Ungarn, weit weg von Budapest" präsentiert offene Blicke auf das ländliche Ungarn

epd Zum Prinzip klassischer Dokumentarfilme gehört es, Entwicklungen zu beobachten, ohne schon zu wissen, wie sie ausgehen. Das tut die Arte-Dokumentation "Ungarn, weit weg von Budapest" offenkundig. Der Film begleitet über ein Jahr hinweg mehrere Einwohner der ungarischen Kleinstadt Tiszavasvári, darunter den Bürgermeister Zoltán, der Viktor Orbáns Fidesz-Partei angehört. "Dass wir sehr nationalistisch geworden sind, ist nicht unbedingt eine schlechte Sache", sagt er. Wenn zum Ende des Films, am Europawahl-Termin im Juni, zugleich die Bürgermeister-Wahl stattfindet, wird dieser Zoltán überraschend nicht wiedergewählt. Mit diesem Ausgang hatte auch das Filmteam wohl eher nicht gerechnet, sonst hätte es bestimmt die siegreiche Gegenkandidatin, die eher kurz zu Wort kommt, länger begleitet.

Ein Problem für den Film ist das nicht. Er lässt sich entspannt auf das recht entspannte Geschehen im kriselnden, nordöstlich von Budapest gelegenen 12.000-Einwohner-Ort ein. Tiszavasvári wird überragt vom gewaltigen Bau einer Pharmafabrik, die allerdings nach ihrer Privatisierung 1997 rund 80 Prozent ihrer Belegschaft abbaute. Seither spielt von der Stadt vergebene gemeinnützige Arbeit, auch wenn sie schlecht, nämlich mit dem halben Mindestlohn bezahlt wird, eine große Rolle.

Etwa ein Drittel der Bevölkerung gehört der Minderheit der Roma an. Bürgermeister Zoltán beklagt, dass die Schule im Roma-Stadtteil wegen einer Klage von Bürgerrechtlern geschlossen werden musste, da sie Segregation gefördert habe. Die Roma beklagen, dass ihre Kinder nun jeden Morgen vier Kilometer zu Fuß gehen müssen, weil die Stadt für sie keinen Schulbus mehr einsetzt. Die, die ein Auto besitzen, bringen ihre Kinder lieber anderswo zur Schule, hört man dann auch noch.

Junge Leute verlassen die Stadt

Zu den länger begleiteten Gesprächspartnern gehören auf Roma-Seite eine junge Mutter, die von solcher gemeinnützigen Arbeit lebt. Ihr Sohn soll es einmal besser haben als sie, sagt sie - sie erzählt, dass sie ihn bekam, weil ihre Eltern ihr mit 18 Jahren eine Abtreibung verboten hatten. Ein 73-Jähriger hat bis zur Entlassung in der Pharmafabrik gearbeitet. Heute angelt er gerne und schimpft nicht auf Fidesz, sondern auf die linksliberale Vorgänger-Regierung.

Auf Seiten ethnischer Ungarn zählt zu den Protagonisten ein noch junger hauptberuflicher Jäger, der beobachtet, dass gut ausgebildete junge Leute die Stadt verlassen und schon daher der Einfluss der Roma steige. Ob die recht zurückhaltende Beschreibung der offenkundig bestehenden Konflikte zu Eigenheiten Tiszavasváris gehört oder eher dem Ansatz des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens geschuldet ist, ethnische Probleme wenn, dann vorsichtig zu benennen, lässt sich während des Films ebenso überlegen wie auch, ob die gezeigte Situation spezifisch ungarisch ist.

Landschaftsaufnahmen rund um die Jagd und das Angeln, aber auch der betuliche, dabei ganz gut besuchte Jägerball zeigen, dass die Uhren in Tiszavasvári anders gehen als in Metropolen. Insofern liegt das Verdienst des Films darin, sozusagen die Peripherie der Peripherie zu beobachten: Ungarn am Rande der Europäischen Union erfährt selten größere Beachtung, und wenn, dann unter den klar gesetzten Vorzeichen, dass seine Regierung aus deutscher Sicht Prinzipien der EU gefährdet.

Offene Blicke auf eine auch innerhalb Ungarns wenig beachtete Stadt, deren Probleme zumindest teilweise auch weitere Städte im ehemaligen Ostblock und darüber hinaus betreffen, ergeben also Sinn. Umso mehr, weil das Prinzip klassischer Dokumentarfilme in der täglichen Fernsehpraxis oft zu Gunsten von Dokumentationen, die von vornherein wissen, was sie zeigen wollen und das dann bebildern, aufgeweicht wird.

infobox: "Ungarn, weit weg von Budapest", Dokumentation, Regie und Buch: Áron Szentpéteri, Kamera: Kristóf Becsey u.a., Produktion: WDR/Populärfilm/Arte (Arte, 2.7.24, 21.45-22.40 Uhr, sowie bis 2.7.25 in der Arte-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 10.07.2024 10:50 Letzte Änderung: 12.07.2024 11:12

Christian Bartels

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation, WDR, Arte, Makowski, NEU

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