Komm in den totgesagten Text - epd medien

11.07.2024 09:03

Mit seinem SWR-Hörspiel "Aristo Games" liefert Hermann Kretzschmar erneut eine überzeugende Arbeit ab, findet Cosima Lutz. Kurzweiligkeit trifft auf Tiefgang.

Hermann Kretzschmar (links), Leslie Malton und Jeremy Mockridge bei der Aufnahme von "Aristo Games"

epd Welche Geräusche macht ein Buch mit Goldschnitt und einem Einband aus Maroquinleder? Auf welche Zustände trifft ein Text aus alter Zeit, wenn im Aufnahmestudio die unterschiedlichsten Menschen damit arbeiten sollen, mit all ihren Launen und stimmlichen Möglichkeiten? Wie verändert ein Sprung durch die Jahrhunderte den Moment, wie benehmen sich die Instrumente, und auf welche (Stimm-)Lagen kommt es an?

Der Pianist, Komponist und altgediente Hörspielautor Hermann Kretzschmar, 1999 Gewinner des Prix Italia für sein Hörstück "Denotation Babel", macht sich immer wieder einen Spaß daraus, die ganz großen Fragen der Menschheit zu Kunst und Leben mit derselben Nonchalance zu stellen wie die ganz kleinen. Auch in seinem neuesten Streich "Aristo Games" spielt er mit der Frage: Mit welchem Recht unterscheiden wir Dinge von "Substanz" von, pardon, "Scheiße"?

Dichtende Männer

Wer sich, wie Kretzschmar, schon die Bibel oder auch Marcel Prousts "Recherche" vorgeknöpft hat, um wortmusikalische Kunstwerke daraus zu destillieren, wer sich nicht davor scheut, Beethovens 32 Klaviersonaten zu einem einzigen, kurzen Werk zu schrumpfen, der hat auch keine Angst vor einem Sampling kanonischer Texte von Aristoteles, Walter Benjamin, Joseph Brodsky, Stefan George und anderen dichtenden Männern. Was nach gedankenzerquälter Forschungsarbeit klingen mag, wird bei Kretzschmar zu einem Hör-Spiel der buchstäblichen Art.

Es gibt sogar eine Handlung: das Hörstück selbst, wie es eingespielt wird im Studio. Ausgerechnet für einen Satz, in dem Aristoteles darüber schreibt, dass man Worte mit oder auch ohne Verknüpfung sagen könne, gerät der Sprecher ins Stocken. Nach mehrmaligen Unterbrechungen befiehlt die Regisseurin, die zweite "Verknüpfung" wegzulassen.

Maschinenhaft zerhackter Sprechgesang

Ironie ist Programm: Sprecherinnen und Sprecher fallen aus ihren Rollen, die Aufnahmetechnik wird geprüft. Es entstehen aber auch soghafte Momente fast schon monströsen Gelingens. Etwa wenn der Chor "Frankfurter Kantorei" unter der Leitung von Winfried Toll wie eine Heerschar unerlöster Seelen klingt, wenn die Singende Säge geistert oder wenn Stefan Georges Gedicht-Hit "komm in den totgesagten park", angetrieben von E-Gitarre und Schlagzeug, zum maschinenhaft zerhackten Sprechgesang wird.

Elegant und simpel legt Kretzschmar seinem Hörstück jene Kategorien als Kapitel zugrunde, die Aristoteles zufolge nicht nur die Welt, sondern auch unsere Erkenntnis strukturierten: Substanz, Qualität, Quantität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haltung, Tun und Leiden. Statt mit philologischer Orthodoxie lässt Kretzschmar dann aber Spiel und Assoziation walten, um diese Begriffe mit ge- und verdichtetem Leben zu füllen.

Weiter musikalischer Bogen

Das kann, in der Rubrik "Zeit", die automatische Ansage eines Anrufbeantworters sein ("Leider rufen Sie außerhalb unserer Sprechzeiten an"), oder, als Beispiel für "Quantität", ein nachgesprochener mathematischer Youtube-Vortrag über die unendliche Menge an natürlichen Zahlen, heruntergebrochen auf das Bild eines Hotels mit unendlich vielen Zimmern. In der Kategorie "ein Tun" hören wir das hypnotisierende Langgedicht "Elegie an John Donne" von Joseph Brodsky, in dem "alles schläft".

Kretzschmars Komposition spannt einen entsprechend weiten musikalischen Bogen von Neuer Musik über Choralgesang bis Punk. Stimmung und Tempo der Sprecherinnen und Sprecher wechseln von Abschnitt zu Abschnitt stark. Sodass die knappe Stunde kurzweilig verfliegt, trotzdem stellt sich der Eindruck ein, tief in die Texte eingedrungen zu sein.

infobox: "Aristo Games", Hörspiel, Komposition und Regie: Hermann Kretzschmar, mit Texten von Aristoteles, Walter Benjamin, Joseph Brodsky u.a. (SWR Kultur, 6.7.24, 23.03-23.59 Uhr und in der ARD-Audiothek)"



Zuerst veröffentlicht 11.07.2024 11:03

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Radio), Lutz, Hörspiel, Aristo Games

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