Der Geist des Marktes - epd medien

18.07.2024 07:44

Der private Rundfunk hatte es bei seinem Start in Deutschland nicht leicht: Neben ARD und ZDF war wenig Platz, erinnert sich der Publizist Norbert Schneider. Umso schriller waren am Anfang die Programme, mit denen die neuen Sender auf sich aufmerksam machten. Schneider erlebte den Start des Privatfernsehens 1984 als Direktor des Senders Freies Berlin. 1993 wurde er Direktor der Landesanstalt für Rundfunk in Nordrhein-Westfalen, die später in Landesanstalt für Medien umbenannt wurde. Schneider benennt in seinem persönlichen Rückblick auch Fehler, die der Gesetzgeber bei der Regulierung des Privatfunks gemacht habe: So sei die Politik beim Setzen der Rahmenbedingungen faktisch den Vorgaben des Marktes gefolgt.

Subjektive Erinnerungen an 40 Jahre Privatfunk

Politiker Wolfgang Clement (links) und Edmund Stoiber: Gesetz an die Verhältnisse angepasst (Archivbild)

epd Der private Rundfunk taucht in meiner Erinnerung zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem ersten Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1961 auf. Damals stellte der Zweite Senat fest, dass das Fernsehen als "Forum und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung" zu wichtig sei, um es dem "freien Spiel der Kräfte" zu überlassen. Und: Das Rundfunkmonopol sei gerechtfertigt durch den Frequenzmangel und die hohen Kosten der Veranstaltung von Rundfunk.

Das war auch die Auffassung der Verantwortlichen in der evangelischen Kirche, als ich sie als Fernsehbeauftragter der EKD vertreten habe (1976-1981). Doch die Gegner dieser Position, angeführt von CDU-Politikern wie Christian Schwarz-Schilling und Dieter Weirich, und Verfassungsjuristen wie Christian Starck, ließen nicht locker. Mit dem sogenannten FRAG-Urteil (1981), das durch das Privatfernsehen im Saarland ausgelöst wurde, erlaubte das Gericht privatrechtlich organisierten Rundfunk, allerdings nur unter Beachtung bestimmter Bedingungen, von denen noch die Rede sein wird.

Inkonsequentes Konzept

Es lag nahe, dass nur große "Player" mit Medienerfahrung wie die Bertelsmann AG, die Gruppe um die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" (WAZ) und zunächst auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" sich auf dieses Terrain begeben würden. Daneben bemühte sich auch der mächtige Filmhändler Leo Kirch, der zusätzlich am Springer-Verlag beteiligt war, um eine Lizenz. Im Januar 1984 gingen mit diesen Eigentümern Sat.1 und RTL plus, zwei "Vollprogramme", an den Start. Am 24. November 1988 nahm ProSieben, gestartet als Filmsender, seinen Betrieb auf.

Der Sender Vox debütierte erst am 25. Januar 1993 als drittes "Vollprogramm", spät und mit einem inkonsequenten Konzept. Einerseits musste die SPD in Nordrhein-Westfalen Privatfunk zulassen, andererseits wollte sie ihn nach dem Prinzip eines Sowohl-Als-Auch-Nicht nach seiner Einführung wenigstens so öffentlich-rechtlich wie möglich machen, mit Journalisten wie Dagobert Lindlau, Ruprecht Eser und Hajo Friedrichs. Doch bis auf eine Tennisübertragung mit zwei Prozent Marktanteil war Vox wenig Erfolg beschieden. Der Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen lag Anfang 1994 bei 1,5 Prozent.

Als die Eigentümer, unter anderen die Stadtwerke Köln, ihren Irrtum einsahen, gaben die meisten ihre Anteile zurück. Das war kurz nachdem ich im Sommer 1993 Direktor der Landesanstalt für Rundfunk in Nordrhein-Westfalen wurde. Doch inzwischen hatten Alexander Kluge und Stefan Aust von Spiegel TV (der Spiegel hielt seinerseits Anteile an Kluges DCTP) die Verantwortlichen von Bertelsmann überredet, neue Anteilseigner zu suchen. Die fanden sich, zum Schrecken vieler Beobachter, in Gestalt von Rupert Murdoch und, weniger problematisch, aber ebenso wenig deutsch, in Canal Plus. Der Neustart von Vox war kompliziert, doch dann hat sich der Sender immer besser entwickelt. Im Mai 2024 lag der Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen mit 4,7 Prozent noch vor Sat.1.

Neben ARD und ZDF war wenig Platz

Von den diversen Spartensendern ist mir vor allem Viva, eine Gründung von Dieter Gorny, in Erinnerung geblieben, nicht nur der Musikclips, sondern auch der vielen Moderatoren und Moderatorinnen wegen, auf die man auch heute noch, wenn auch in anderen Funktionen, in TV-Programmen stößt: Stefan Raab, Heike Makatsch, Matthias Opdenhövel und andere.

Man übersieht leicht, dass die kommerziellen Sender den Betrieb mit einem gewichtigen Handicap aufnehmen mussten. Neben ARD und ZDF war kaum noch Platz. Die Frequenzen waren knapp, Kabelplätze ebenso. Kompetentes Personal musste erst gefunden werden. Prominente Namen fehlten. Programm-Vorräte (abgesehen von Spielfilmen) gab es kaum. Dabei sollten doch die Programme den Unterschied machen.

Vielleicht hat diese Ausgangslage auch die ersten Einschätzungen der Wettbewerber befeuert. Ich erinnere mich - ich war damals Fernsehdirektor des Sender Freies Berlin - an eine Hauptversammlung der ARD in Bremen im Frühsommer 1985. Da hat man über die "Privaten" noch maliziös gelächelt. Man fand eine Übertragung aus Wimbledon mit Boris Becker spannender als die Frage, wie man den neuen "Konkurrenten" begegnen sollte. Denn was hatten die schon zu bieten?

Die Perspektive des Regulierers

An die Stelle dieser für Platzhirsche typischen Arroganz trat dann doch langsam die Befürchtung, man könnte womöglich Publikum an die Neuen verlieren. Denn es zeigte sich, dass es Helmut Thoma und Leo Kirch offenbar ernst meinten. Es gab tatsächlich "neue" Programme, neue Formate, auch wenn manche von ihnen vor allem bemüht waren, dem Affen Publikum Zucker zu geben. Ich habe diese ersten Jahre als Geschäftsführer der Allianz-Film, einer Produktionsfirma der WAZ-Zeitungsgruppe, erlebt, und musste zur Kenntnis nehmen, dass bei RTL auch die Tochter eines Miteigentümers, die bisher ihre Aufträge von ARD und ZDF bekam, nicht bevorzugt, sondern eher skeptisch betrachtet wurde.

Als klar wurde, dass es einen zweiten Typ von Rundfunk geben würde, der zwar den Marktgesetzen folgen durfte, aber nicht schrankenlos, erinnerte man sich an eine alte Devise: Rundfunk ist Ländersache. In den Bundesländern wurden in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre Landesmedienanstalten gegründet, auf der Grundlage von Mediengesetzen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, Lizenzen zu erteilen - falls dies nicht schon erfolgt war - und technische sowie rechtliche Fragen und Entwicklungen zu bewerten und gegebenenfalls auch zu entscheiden.

Ich war 1993, zu Beginn der zweiten Dekade, zum Direktor der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen gewählt worden. Meine Position zum Privatfunk war nun nicht mehr davon bestimmt, ihn zu verhindern, ihn, als er dann kam, als Konkurrenten zu sehen und später als Auftraggeber. Ich sah ihn jetzt - und das für 17 Jahre - aus der Perspektive des Regulierers. Und da ich vom Programm kam, habe ich mich auch in dieser Position für das Programm interessiert.

Gelegentlich grenzwertiges Programm

Für das Kommerzprogramm gab es nicht nur Regeln für die Platzierung, die Länge und auch bestimmte Inhalte der Werbung, oder für Product Placement. Es gab auch Grenzen des Zeigbaren, etwa mit Blick auf grundlose Gewalt. Es gab den Jugendschutz. Die Aufsicht achtete auch auf mögliche Verletzungen der Menschenwürde. Doch ihre Hauptbeschäftigung galt Protesten gegen Sendungen, die zwar anstößig und gelegentlich grenzwertig wirkten, aber unter die Rundfunkfreiheit nach Artikel 5 der Verfassung fielen.

Die Privaten setzten in den ersten Jahren auf Sendungen wie "Explosiv - Der heiße Stuhl" (1989 bis 1994), eine Krawall-Talkshow, bei der auch Ulrich Meyer angefangen hat, die zeitweise fünf Millionen Zuschauer anlockte. 1990 bis 1993 präsentierte der Alleskönner Hugo Egon Balder "Tutti Frutti", eine nur ironisch zu verstehende Fleischbeschau. Balder moderierte ab 1988 auch zusammen mit Hella von Sinnen '"Alles Nichts Oder". Mit "RTL Samstag Nacht" (1993 bis 1998) wurde mit Protagonisten wie Wigald Boning und Olli Dittrich eine sehr erfolgreiche Comedy-Reihe angeboten, wie auch manche anderen Formate wie zum Beispiel Günther Jauchs Erfolgsprogramm "Wer wird Millionär", die Adaption einer importierten Idee. Die Stand-up-Comedy machte in den 1990er Jahren Karriere mit so verschiedenen Typen wie Michael Mittermaier, Atze Schröder oder Rüdiger Hoffmann.

Auch die täglichen Informationssendungen folgten, wenn auch in Maßen, dem Quotenkonzept. Ulrich Meyer (der später zu Sat.1 wechselte), Hans Meiser und vor allem Peter Klöppel gaben ihnen Gewicht und Gesicht.

Kein bemerkbarer Einfluss von Parteien

Der Wille zum Erfolg zeigte sich auch beim Erwerb von Sportrechten. Wimbledon ging 1989 an RTL (der "Spiegel" titelte: "Matchball fürs Kommerzfernsehen"), die Bundesliga ging 1992 an Sat.1. Die Moderatoren von "Anpfiff" oder "Ran" (Ulli Potofski, Reinhold Beckmann, Johannes B. Kerner) wurden so prominent, wie es die von ARD und ZDF schon waren.

Natürlich gab es auch - ein Sendetag braucht viel Stoff - jede Menge von handwarmen Programmen, Zeitfüller. "Ein Schloss am Wörthersee", mit Uschi Glas, Roy Black und Pierre Brice (1990 bis 1993) brachte es auf 34 Episoden, nicht wegen intelligenten Plots, sondern wegen einer hohen Quote. Immer wieder mischten die Programmplaner attraktive Spielfilme mit provokanten, mit "unmöglichen" Programmen, die aus dem ganzen Leben, wenn es gepasst hat, nicht nur ein Quiz gemacht haben, sondern eine Häufung von (meist freilich nur scheinbaren) Skandalen. Ungeniert griffen die Privaten voll in das schamlose Angebot von Reality-TV. Sie betraten, von Begeisterung und Empörung rechts und links begleitet, Tag für Tag ihre Lieblingsstraße zum Programm: den Boulevard.

Und dann gab es auch etwas, was es nicht gab, was die Verfechter des Privatfernsehens, die aus den Parteien kamen, schwer enttäuscht hat: Es gab keinen im Programm bemerkbaren Parteieinfluss von Bedeutung, es sei denn, er hätte die Quote gehoben. Parteipolitik hätte bedeutet, auf Teile des Publikums zu verzichten. Selbst Leo Kirch blieb, was dies betraf, hart. Auch für ihn schlug Quote alles, sogar politische Gesinnung und gesellschaftliche Relevanz.

Den Nerv getroffen

Alexander Kluge, seit 1987 mit seinen Kulturmagazinen wie "10 vor 11" ein Pfahl im Fleisch der Privaten, realisierte die SPD-Idee einer Vielfaltsreserve. Und wenn zum Kommerzprogramm aus dem Publikum oft die Frage kam: Dürfen die das, kam sie bei Kluge von den Senderchefs selbst. Die Antwort hieß: Ja, der durfte.

Mir ist als Gesamteindruck der ersten Dekade in Erinnerung geblieben, dass Thoma und Kirch und die ihren mit der Wurst und dem Speck nach dem Zuschauer warfen. Das taten sie nicht für einen guten Ruf und ein blankes Image. Ihr Interesse richtete sich auf die jeweils höchste Quote. Der Tausenderkontakt war die Währung der Werbung. Offenbar trafen sie einen Nerv beim Publikum.

Nach dem Belächeln und dem Fürchten kam daher das Lernen. Die Quote fand mehr und mehr auch das Interesse der ARD und ZDF. Für mich war ein unerwünschter Nebeneffekt in der Wirkung des privaten Fernsehens, dass nun alle an die Quote glaubten.

Aufreger wurden seltener

Dass Zuschauer immer wieder Verbote forderten, lag auch daran, dass sie genau das verlangten, was sie vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk kannten. Doch die Kommissionen der Medienanstalten waren zwar, was die gesellschaftliche Repräsentanz anging, den öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien nachgebildet, doch sie hatten nicht einmal im Ansatz ähnliche Kompetenzen. Sie hatten keinerlei Einfluss auf die Programme vor der Ausstrahlung, auf die Personalpolitik, auch nicht auf Businesspläne. Für Verbote anstößiger Programme gab es abgesehen von den erwähnten Regelungen keine gesetzliche Rechtsgrundlage, auch wenn die Medienpolitiker gerne mitprotestierten und den Eindruck erweckten, dass die Landesmedienanstalten nicht hart genug aufträten.

Als ich mich in die Programme "eingesehen" hatte, stellte ich fest: im Lauf der zweiten Dekade hatten die Tabubrüche ihren Reiz verloren. Die "Aufreger" wurden seltener, auch wenn sie nach wie vor Aufsehen erregten wie etwa zwei Hochämter der kontroversen Fernsehkritik: die Reality-Show "Big Brother" (2000) und "Ich in ein Star - Holt mich hier raus", die sogenannte Dschungel-Show (2004). Erst waren diese Shows ein Igittigitt für Kritiker, mittlerweile sind sie längst Kult.

Es gab - Reden ist Geld - eine rauschende Talkshow-Welle, für die einen Dokumente der Partizipation des kleinen Mannes, für die anderen nicht mehr als eine schmutzige Brühe. Der Spitzen-Talker war Hans Meiser. Nachdem er von 1984 bis 1992 Anchormen von "7 nach 7" gewesen war, moderierte er von1992 bis 2006 die Sendung "Notruf". Der Höhepunkt seiner Karriere war eine Talkshow, die schlicht und einfach seinen Namen trug, so wie die "Harald Schmidt Show" bei Sat.1 (1995 bis 2003) - ein Privileg, das Günther Jauch, einem weiteren RTL-Protagonisten, erst zuteil wurde, als er 2011 im Ersten die Talkshow am Sonntagabend übernahm.

Die Frage nach der Qualität

"Big Brother" hatte noch einmal daran erinnert, dass auch Privatfernsehen nicht nur nach seinen Bilanzen, sondern auch nach seinem Programm beurteilt werden musste. Das überbordende Talkshow-Angebot hatte zu Gesprächen zwischen dem Regulierer und den Sendern über die Inhalte geführt, über Grenzen der Rundfunkfreiheit.

Es gab freilich unterhalb von Gesetzen eine Möglichkeit, auf die Programme Einfluss zu nehmen: Man musste sie mit der Frage nach ihrer Qualität behelligen. Die Aufsicht musste Debatten inszenieren, die den Veranstaltern solcher Programme unangenehm waren, die Quote kosteten, die den Ruf beschädigen konnten. Protest war nicht gut fürs Geschäft.

Ich habe mich speziell um dieses Konzept einer "weichen" Aufsicht gekümmert und musste ertragen, dass auch manche meiner eigenen Kollegen sich beim Anblick solcher Anstrengungen amüsiert abgewandt haben. Denn die Programme der Privaten haben generell keine zentrale Rolle in der Aufsicht gespielt. Für Juristen war da nicht viel zu holen. Man konnte dies am Kölner Medienforum ablesen, das die Landesanstalt für Medien und die Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen von 1987 bis 2017 jährlich veranstaltet haben. Dort gaben die Unglücks- und Heilspropheten künftiger Technologien den Ton an. Das Programm wurde bald an die Cologne Conference von Lutz Hachmeister zur Besichtigung durchgereicht.

Investition ins Programm

Wenn man als Regulierer auf etwas stolz sein dürfte, dann wäre ich es für die Einrichtung eines jährlich erscheinenden Programmberichts. Ich habe das Thema "Programm" in zahlreichen Texten für Mediendienste und Zeitungen verhandelt. Als RTL eine Journalistenschule gründen wollte, hat sich die Landesanstalt für Rundfunk in Nordrhein-Westfalen an den Kosten beteiligt. Der Vorsitzende des Journalisten-Verbands in Nordrhein-Westfalen nannte das damals einen Skandal: Geld für die Privaten! Für mich war es eine Investition ins Programm. Dem hätte auch mein Vorschlag geholfen, eine Stiftung Medientest einzurichten, die sich um Programmkriterien gekümmert hätte. Doch am Ende fehlte das Geld. Und war nicht völlig unklar, was Qualität sein könnte?

Auch die unerfüllbaren Wünsche beim Publikum in Fragen prekärer Programme zeigten den kapitalen Unterschied: Der eine Rundfunk wurde von der Gesellschaft veranstaltet, er hatte publizistische Ziele wie die Herstellung von Öffentlichkeit, die Bereitstellung einer Grundversorgung, die Beachtung von Ausgewogenheit, die Beachtung von Minderheiten. Veranstaltet und kontrolliert wurde er von der Gesellschaft, finanziert durch das Geld der Nutzer. Der andere Rundfunk wurde von Gesellschaftern veranstaltet. Er verkörperte die Geburt des Programms aus dem Geist des Marktes, indem sich freilich immer auch der Zeitgeist spiegelt.

Ein Schwerpunkt der Aufsicht war bis in die 2000er Jahre, freilich mit abnehmendem Umfang, die Verhinderung von marktbeherrschenden Stellungen einzelner Veranstalter(familien). Den meisten Druck mit dem Blick auf Medienbesitz übte die schon in den 1980er Jahren einsetzende Expansion der Kirch-Gruppe aus.

Die Macht der Konzerne

Die Verhinderung von Konzentrationsbildungen schuf, weil der Marktanteil den Besitz definierte, schon sehr früh für die Eigentümer das Problem einer "Inländerdiskriminierung". Das bedeutete: Als Folge der medienrechtlich festgelegten Eigentumsgrenzen konnten bald nur noch ausländische Gesellschaften wie Viacom oder Tycoone wie Rupert Murdoch oder Silvio Berlusconi Anteile an deutschen Sendern (oder wie John Malone am deutschen Kabelnetz) erwerben.

Das Eigentümerproblem nötigte die Politik schließlich zum Handeln. Die Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (SPD) und Edmund Stoiber (CSU) haben 1996 etwas vollbracht, was sie ein Wunder nannten. Tatsächlich ging es um eine Anpassung des Gesetzes an die Verhältnisse, faktisch um nichts anderes als ein Nachgeben gegenüber Bertelsmann und Kirch. Es wurden Höchstgrenzen für TV-Gesellschafteranteile festgelegt, denen auf der Stirn geschrieben stand, dass sie nie jemand würde erreichen können - ein frühes Beispiel dafür, was aus Regulierung wird, wenn die Macht der Konzerne größer ist als die Macht der Politiker.

Ein Annex dieses Wunders wurde die Einrichtung einer Kommission zur Ermittlung der Konzentration (KEK) durch einen Staatsvertrag. Die KEK sollte jeden Lizenzantrag mit Blick auf das Medieneigentum der Veranstalter prüfen. Sie hat nur ein einziges Mal "abgelehnt", 2006, als sie die Übernahme des TV-Konzerns ProSiebenSat.1 durch Springer untersagte - was 2014 vom Bundesverwaltungsgericht als Fehlentscheidung gewertet wurde.

Fixierung auf den Marktanteil

Rückblickend erscheint die Regulierung der TV-Veranstalter in dreierlei Hinsicht unzureichend. Sie war, was die regulierten Medien betraf, zu eng, weil sie sich auf die Sender als die Flaschenhälse für die öffentliche Meinung beschränkt hat. Der Inhalt der Flaschen war kein Thema. Dabei wäre es notwendig gewesen, auch die Ebene der Produktion der Inhalte, die Produzenten von fiktionalen und nonfiktionalen Programmen in die Regulierung einzubeziehen.

Eine zweite Schwäche war die Fixierung auf das Zählbare, auf den Marktanteil. Der Gesetzgeber hat sich nie damit befasst, Kriterien und Standards für qualitative Aspekte der Programme in die Berechnungen einzubeziehen. Der Blick auf Artikel 5 des Grundgesetzes hat gereicht, um sich herauszuhalten, eine Verweigerung mit Folgen, die im Internet inzwischen zu einem Desaster geführt haben.

Eine dritte Schwäche war die Beschränkung der Eigentumsgrenzen auf Vollprogramme. Sie folgte der Vorstellung, dass nur sie Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ausübten. In allen drei Schwächen folgte der Gesetzgeber faktisch den Vorgaben des Marktes, also genau den Treibern der Entwicklung, die durch Regulierung hätten eingehegt werden müssen.

Teure Rechte

Eine Zäsur im deutschen Privatfernsehen bildete 2002 die Insolvenz von Leo Kirch, der auch technologische Entwicklungen vorangetrieben hatte, in Sonderheit von Digitalboxen. Dabei hatte er sich wohl übernommen, auch wenn ein Chef der Deutschen Bank durch sein Gerede die Pleite mit ausgelöst hatte.

Die Schulden von Kirch betrugen, als er im April 2002 Insolvenz anmelden musste, weil die Banken ihn hängen ließen, 6,5 Milliarden Euro. Ob das zu viel war, hätte man eigentlich erst feststellen können, wenn man zugleich hätte sagen können, wie viel Schulden für Kirch normal waren, und wie es mit der Deckung ausgesehen hat. Denn er hatte permanent beträchtliche Einnahmen und verfügte über teure Rechte. Kirch hat wohl deshalb nie damit gerechnet, dass er plötzlich nicht mehr kreditwürdig sein sollte.

Jemand, der so expandierte wie er, tat das nie mit eigenem Geld. Hatte Kirch also in den Augen seiner Geldgeber, auch seiner politischen Protektoren, zu viel Macht angehäuft? Manchen Weggenossen hat der tiefe Fall offenbar ins Konzept gepasst, auch solchen, die man für Kirchs Freunde hätte halten mögen.

Was geht, wird gemacht

Die Sender der Kirch-Gruppe fielen nach der Insolvenz Investoren in Hände, die an Qualitätsfragen kein sonderliches Interesse hatten. Ihnen ging es um die Wertsteigerung eines Investments. Der erste dieser Ökonomisten war Haim Saban. Er kaufte dem Insolvenzverwalter die ProSiebenSat.1-Gruppe für gut 500 Millionen Euro ab, ließ sich als Retter feiern und verkaufte die Sendergruppe ein paar Jahre später für rund 3 Milliarden Euro. Die diversen Investoren, die die ProSiebenSat.1-Gruppe, wie sie jetzt hieß, in der Folgezeit übernommen und wieder verkauft haben, hatten beim Kauf jeweils nur den Exit im Sinn. Im Programm sahen sie allenfalls die Zitrone, die man auspressen musste.

Gibt es ein Fazit? Mein Fazit ist bestimmt von der Behauptung, dass sich im Kommerzfernsehen, wenigstens in den ersten 20 Jahren, der Geist des Marktes und der Zeitgeist sehr nahekamen. Ulrich Beck sah die Moderne auf dem Weg in eine Risikogesellschaft (1986). Nicht nur medienpolitisch war Deregulierung das Wort der Dekade. Sie definierte Freiheit als grenzenlos: Was geht, wird auch gemacht. Fortgesetzt wurde "entfesselt". Der Neoliberalismus von Milton Friedman blies die Backen von Bill Clinton und George Bush, von Tony Blair und ein bisschen auch von Gerhard Schröder auf - bei ihm zusammen mit Wolfgang Clement.

Weniger Einflussmöglichkeiten

Diese Grundstimmung spielte dem Kommerzfunk ebenso in die Karten, wie er wiederum diese Strömungen verstärkte: Ein klassischer Fall von win-win. Die Programme scherten sich nicht um Grenzen, sie schleiften - nicht zuletzt in ihren Talkshows - den Unterschied zwischen öffentlich und privat. Sie simulierten flache Hierarchien. Die Jugend feierte sich selbst. Jeder duzte jeden. Die Programme versorgten die Spaßgesellschaft mit Spaß ohne Ende, ohne Scheu vor dem Vulgären. Sie folgten einer Devise, die Jahre später auch der RBB offiziell als Werbespruch nutzte: "Bloß nicht langweilen!"

Doch irgendwann war Schluss mit lustig.

Ein Nachtrag: Zur Entwicklung des privaten Rundfunks aus der Perspektive der Regulierung gehört auch dies: Die erste Stufe der Digitalisierung, den Übergang zu digitalen Rundfunkübertragungswegen, haben die Landesmedienanstalten noch mitgestaltet. Mit der Reduzierung und Überwindung des Mangels haben sich ihre Einflussmöglichkeiten jedoch massiv verringert. Der Gefährdung durch die Kontrolle der digitalen Geräte durch die von der Politik unterstützte Zusammenarbeit von Kirch, Bertelsmann und Telekom, sind die Landesmedienanstalten entgegengetreten. Rückblickend muss man allerdings sagen, dass sich solche proprietären Lösungen angesichts der Dynamik des Internets so wenig durchsetzen ließen wie die vielfältigen Versuche der Deutschen Telekom, neben den Netzen auch Inhalte zu kontrollieren.

Kontrolle von Hassbotschaften

Die Privatisierung der Netze für Breitbandübertragung hat praktisch allein das Kartellamt kontrolliert, auch wenn sich die Medienanstalten am Rande beteiligt haben. Für den insbesondere nach der deutschen Einheit dem Kabel in der Bedeutung vergleichbaren Übertragungsweg über Satelliten gab es nie eine deutsche Regulierung, weil ein kluges Monopol rechtzeitig Kapazitäten ausgebaut hat.

Die neuen, in jeder Hinsicht auf Privatheit spezialisierten Kommunikationsformen der sozialen Netzwerke sind ohne Regulierung durch Medienanstalten entstanden, die traditionellen Rundfunkübertragungswege, die in ihre Zuständigkeit fielen, verloren immer mehr an Bedeutung. Es entstanden neue Fragen, insbesondere nach der Kontrolle von Hassbotschaften und anderen Grenzüberschreitungen. Sie erinnern an ein elementares Thema der Medienaufsicht: die Sicherung der Meinungsfreiheit gegenüber solchen, die sie benutzen, um sie zu zerstören. Und das Resultat dann Freiheit nennen.

Das Problem der Medienkonzentration hat mit Bezug auf Fernsehen massiv an Bedeutung verloren, seit der "Überwachungskapitalismus" (Shoshana Zuboff) mit seinen Big Five den Ton angibt. Er übertrifft die Macht und das Vermögen klassischer Medienbesitzer um ein Vielfaches. Er bestimmt auch die Entscheidungen der Politik. Auf die Werbeetats wirkt er wie ein Staubsauger.

Provinzposse

Zu den Ausgesaugten gehören vor allem die privaten TV-Veranstalter. Sie wirken auch deshalb nach 40 Jahren kraftlos und ohne publizistische Absichten. Sie vermitteln das Gefühl: Niemand braucht sie so recht. Längst sind, was die Fiktion angeht, die Streamer die eigentlich Privaten.

Überleben kann diese neue Machtverschiebung wohl nur, wer sein Geld nicht selbst verdienen muss. In Deutschland hat dieses Privileg der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Es könnte dazu kommen, dass er schon bald wieder, wenn nicht einzigartig, so doch die einzige Art von Fernsehen ist, wie schon einmal in seinen besten Zeiten, von 1962 bis 1984. Doch das wird nur passieren, wenn die Medienpolitiker der Parteien sich dazu aufraffen, diesen Rundfunk weiter ausreichend zu finanzieren. Dazu müsste die derzeit gespielte Provinzposse, in der die Rolle der Verfassung gestrichen wurde, vom Spielplan genommen werden. Andernfalls droht auch ihm, US-amerikanischen Entwicklungen folgend, der endgültige Sendeschluss.

Norbert Schneider Copyright: Uwe Völkner / FOX Darstellung: Autorenbox Text: Norbert Schneider war von 1993 bis 2010 Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen.



Zuerst veröffentlicht 18.07.2024 09:44 Letzte Änderung: 22.07.2024 11:53

Norbert Schneider

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Privater Rundfunk, Medienpolitik, Schneider, BER, NEU

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