Endspiel in Mayrhofen - epd medien

23.07.2024 07:04

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs reiste UFA-Produzent Eberhard Schmidt zusammen mit 60 Filmschaffenden aus dem umkämpften Berlin ins Zillertal, angeblich um dort einen Film zu drehen. Erich Kästner, der als Autor dabei war, hielt in seinem Tagebuch "Notabene 45" fest, wie die Beteiligten Aufnahmen vortäuschten. Magdalena Schrefel hat in "Die Lücke füllen im Schnitt" aus Kästners Aufzeichnungen und ihren eigenen Recherchen ein Hörspiel über den Schelmenstreich am Rande des Untergangs gemacht.

epd Was tun wir mitten im Untergang? Diese Frage bewegte Anfang 1945 viele Deutsche, naturgemäß mit höchst disparaten Ergebnissen. Auch der Schriftsteller Erich Kästner stellte sie sich in seinem Tagebuch "Notabene 45". Dort dokumentierte er Einzelheiten der Endphase von Terror und Krieg, in der sich letzte Wahnsinnsmaßnahmen des Naziregimes zunächst noch krass gegen Niederlage und Befreiung behaupteten. In diesem Finale ereignete sich auch das verwegene Abenteuer einer Berliner Filmcrew, in das sich Kästner selbst trotz Publikations- und Reiseverbot plötzlich einbezogen sah.

Der UFA-Produzent Eberhard Schmidt verfolgte mitten im totalitären Wahnsinn einen aberwitzigen Plan. Scheinbar zustimmend berief er sich auf die Propagandaformel "deutscher Endsieg", die er doch faktisch satirereif unterwanderte. "Der deutsche Endsieg naht", erklärte Schmidt im Propagandaministerium, deshalb müssten nun deutsche Filme für die Zeit danach hergestellt werden. Da aber in den Filmateliers bei Berlin das Produktionsrisiko täglich wachse, müsse man Stoffe mit Orten für Außenaufnahmen bevorzugen. So setzte der Produzent den Reichsfilmchef Hinkel unter Zugzwang und konnte 60 Berliner Filmschaffende, unter ihnen den Regisseur Harald Braun und das Schauspielerduo Ulrich Haupt und Hannelore Schroth, aus der umkämpften Hauptstadt ins schöne Zillertal in der alpinen "Ostmark" expedieren.

Rettendes Projekt

Magdalena Schrefel vergegenwärtigt nun in ihrem Hörspiel "Die Lücke füllen im Schnitt" das so rettende wie nebulöse Projekt. Sie zieht dazu Kästners nachträglich erweitertes Tagebuch und vielerlei Archivmaterial heran, um die Wahrheit über den vorgeblich geplanten Film "Das verlorene Gesicht" zu ermitteln. Die aktuelle Welle von Reflexionen über den "doppelten Erich", der trotz Bücherverbrennung und Publikationsverbot doch unter Pseudonymen weiterhin in Berlin Drehbücher schrieb wie 1943 das zum Erfolgsfilm "Münchhausen", interessiert in diesem Hörstück nicht. In mancher Hinsicht aber steht Schrefel Dominik Grafs und Anatol Regniers vielperspektivischem Schriftsteller-Reigen in "Jeder schreibt für sich allein" nahe. Sie zweifelt nicht an Kästners Kritik am Regime, eher an seinem Widerstandswillen. Dieser wächst dann in ihrem Hörstück mit der Aussicht auf ein Ende des Regimes und mit dem Näherrücken der Amerikaner.

Schrefel konzentriert sich auf das Endspiel in Mayrhofen. Spannungsreich montiert, setzt sie in Szene, wie die Beteiligten mit hohem Zeit-, Personal- und Ausrüstungsaufwand Ort und Umgebung erkunden und Außenaufnahmen vortäuschen, auch wenn in der Kamera die Filmrollen fehlen. Kästners Tagebuch vermittle das Projekt Mayrhofen "wie eine einzige heitere Räuberpistole", heißt es eingangs im Hörspiel. Das trifft nur punktuell zu. Denn Kästner übersieht natürlich den Aberwitz des Unternehmens nicht, weit mehr aber vertieft er sich in die Suche der Berliner nach Zuflucht, und vor allem dokumentiert er Schritt für Schritt den Ernst der Lage.

Keine Sicherheit im totalitären System

Schrefel und die Regisseurin Anouschka Trocker machen sich weitgehend diese Dramaturgie zu eigen. Der Schelmenstreich am Rande der Verzweiflung setzt neben den eigenen Recherchen auch ein existenzielles und politisches Stationendrama zwischen Ängsten und Hoffnungen in Gang.

Die Berliner Gruppe rettet sich zwar in eine ländliche Idylle, genießt aber keinerlei Sicherheit. Im totalitären System, so zeigt sich bald, gibt es keine reine Natur und kein Abseits mehr, Ortsgruppen- und Gauleiter sind überall präsent. Der erste Sohn der Wirtsleute, bei denen Kästner (Konrad Singer) und Luiselotte Enderle (Birte Schnöink) wohnen, ist vor beider Ankunft bereits im Krieg gefallen, sein Foto mit Trauerflor hängt nahe dem Hitlerbild. Die Erschütterung der Restfamilie beim jähen Tod des zweiten Sohnes, in Kästners Tagebuch Inbegriff des geballten Jammers über Krieg und Nazidiktatur, kommt bei Schrefel nicht vor.

Jazz im Radio

Kästners Angst indessen, er werde wegen Anwesenheit in Mayrhofen denunziert, beim Reichspropagandaministerium Berlin oder bei dessen Filiale in Innsbruck, wird mehrfach laut im Hörstück, ebenso beunruhigend wie die Sorge aller Eingereisten, angesichts des Vormarschs der Alliierten in letzter Minute noch an die Front gezwungen zu werden. Erst Jazz bei Radio München ist das Signal von Entwarnung und Befreiung. Die Übernahme des Senders durch die amerikanische Militärregierung bringt die Gewissheit: Der Krieg ist aus.

Kein Wunder, dass manche aus der Filmcrew nach dem Mayrhofen-Abenteuer ihr Glück nicht mehr in Berlin, sondern im nahen München suchen. Kästner beispielsweise wird dort bei der neu gegründeten "Neuen Zeitung" Feuilletonchef. Im Bavaria-Atelier in Geiselgasteig wird nach seinem Buch der Film "Das doppelte Lottchen" produziert, ein Publikumsmagnet im Jahr 1950.

infobox: "Die Lücke füllen im Schnitt", Hörspiel, Regie: Anouschka Trocker, Buch: Magdalena Schrefel (RBB3, 7.7.24, 14.03-15.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 23.07.2024 09:04 Letzte Änderung: 23.07.2024 14:57

Eva-Maria Lenz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), Hörspiel, KBR, Schrefel, Kästner, Trocker, Lenz, BER, NEU

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