Olympia kann kommen - epd medien

27.07.2024 09:13

Die vierteilige SWR-Doku-Reihe "60 Sekunden" versetzt die Zuschauer mit Über-Emotionalisierung in Stimmung. Heike Hupertz lobt zugleich die gelungene Hintergrundinformation zum Thema Kunstturnen.

Sarah Voss bei der Weltmeisterschaft 2023 am Stufenbarren

epd Für den Sportler des Jahres 2023 Lukas Dauser ist Kunstturnen der härteste Sport der Welt. Bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen im Oktober 2023 geht es für den Vize-Olympiasieger, Vize-Weltmeister, Vize-Europameister und Turn-Weltcupsieger am Barren um den Titel, aber auch um das Olympiaticket für Paris. Lukas Dauser wird tatsächlich Weltmeister, frenetisch bejubelt von seinem Mentor Florian Hambüchen. Andere aus dem deutschen Team haben sich verletzt, was den Druck noch einmal erhöht hat, nicht nur einzeln, sondern auch in der Nationenwertung bestmöglich abzuschneiden.

Beim engen Feld der internationalen Leistungsträger kommt es auf jedes Zehntel an. Nicht nur in der Bewertung der vorgeschriebenen technischen Elemente, sondern auch in der Ausdruckseinschätzung durch die Kampfrichter. Dass Andreas Toba, der schon in Rio 2016 sich das Knie verletzte und anschließend mit Kreuzbandriss seine Übung am Pauschenpferd glänzend durchturnte, sich in Antwerpen erneut verletzt, spornt seine Teamkollegen umso mehr an.

Härtester Sport der Welt

In "60 Sekunden Perfektion", einer vierteiligen Kunstturn-Reportage des SWR, werden in solchen Momenten die Veränderungen sichtbar, die diesen und ähnlichen Spitzenleistungssport künftig ausmachen sollen. Mentalitätswandel, Teamgeist, Alle-für-einen und Einer-für-alle. Vor allem kein Ideal des kindlich biegsamen "Turnflohs" mehr, wie er früher besonders im Frauenturnen beschworen wurde.

Gezeigt werden soll die körperliche und mentale Leistung erwachsener Männer und Frauen, deren Medaillen zwar das Ergebnis harter Disziplin und intensiven Schmerzmanagements sind, die aber selbstbestimmt für ihre Interessen eintreten und deren gewählte Teamsprecher im Verband eine gewichtige Stimme haben. Und für die "Spaß" selbst bei Olympia kein Fremdwort ist.

Der härteste Sport der Welt also. Kein Tag, an dem es keine körperlichen Probleme gibt. Eine Welt, in der der Physiotherapeut gleichzeitig Verletzungen des Körpers und der Seele behandelt. Das gilt freilich für das Kunstturnen genau wie für Eislaufen oder die Welt des klassischen Balletts. Allen gemeinsam ist, dass hier Kinder von jungen Jahren an Leistung zeigen müssen, wenn sie richtig gut werden wollen, und dass sie ein besonderes Verhältnis zu ihrem Körper als Instrument und Werkzeug haben (müssen). Und dass andere, Trainer und Trainerinnen, Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und Funktionäre (oder Intendanten und Choreographen mit Besetzungsprioritäten), ebenfalls ein besonderes, besonders intimes Verhältnis zu diesen Körpern haben. Was ebenfalls heißt, dass Grenzen besonders wichtig sind.

Staunenswerter Wille

Gemeinsam ist auch, dass das Alter eine besondere Herausforderung darstellt. Ab 16 gehört man im Turnen zu den Seniorinnen und Senioren. 30-jährige Spitzenathleten, wie Lukas Dauser oder auch Elisabeth Seitz, deren (Verletzungs-)Geschichte und Comeback-Versuch sich wie ein roter Faden durch alle vier Folgen zieht, wären zu den Zeiten, als Kinderkörper wie der von Nadia Comaneci oder Olga Korbut das Ideal bildeten, beäugt worden. Ein Körper, der schon 25 Jahre Kunstturnen mitmachen musste und immer noch top mitmacht, ist eigentlich unmöglich. Ein Wille, der immer noch auf Überwindung setzt, ist staunenswert.

Den Mentalitätswandel im Turnen, ein erst eingeleiteter, aber hoffentlich unwiderruflicher Prozess, zeigt "60 Sekunden Perfektion" gut und schließt dabei Widersprüchliches mit ein. Filmisch ist die vierteilige Serie ziemlich vorhersehbar formatiert, bedient die übliche Sportberichterstattungs-Countdown-Spannung, lässt aber, das ist ein Plus, die Turnerinnen und Turner ausführlich selbst zu Wort kommen. Manches hört sich dabei zu gewollt an, um wirklich wahr zu sein, etwa wenn der Bundestrainer der Frauen, der Niederländer Gerben Wiersma, den Teamkämpferinnen bei der Weltmeisterschaft in Antwerpen vor allem "Spaß" wünscht. Tatsächlich wird es mit dem Teamticket nichts, statt der erhofften fünf Startplätze bei Olympia gibt es somit nur drei.

In der letzten Folge, "Showdown", wird Elisabeth Seitz, die sich vor Antwerpen einen Achillessehnenriss zuzog und bis zum schließlich entscheidenden Ersatz-Quali-Wettkampf bei Operation, Reha und Training gezeigt wird, im "Generationenduell" gegen die 16-jährige Helen Kevric verlieren. Seitz wird, wie die ARD schon im Juni mitteilte, nun als Turn-Kommentatorin die Olympiaberichterstattung begleiten. Auch solches gehört heutzutage zentral zum TV-Sporterlebnis - nicht nur die Emotion des eigentlichen Wettkampfs, sondern die Sportlerbiografie, das Menschelnde und das Repräsentative selbst der Kommentations-Persönlichkeit wird dar- und ausgestellt. Eine neue Form der Überforderung von Sportlern, die jetzt nicht nur spitzenmäßig leisten, sondern auch persönlich interessant sein müssen.

Psychische Erniedrigung

Während die ersten Folgen "Schmerzen" und "Sieger" Frauen- und Männerteam und vor allem Elisabeth Seitz und Lukas Dauser in den Mittelpunkt stellen, geht es in der dritten Folge, "Skandal", am stärksten in medias res. Aufgerollt wird der Missbrauchsskandal im amerikanischen Frauenturnen, in dessen Folge der Mannschaftsarzt Larry Nassar zu 175 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er, so die Richterin, die auch hier zu hören ist, entschied, dass er es nie mehr verdiene, in Freiheit zu sein. Gezeigt werden Ausschnitte aus den Zeugenaussagen der amerikanischen Turnerinnen wie Simone Biles, die vom Missbrauch berichten und gleichzeitig das System des Turnverbands als mitschuldig anklagten.

Neben der sexualisierten physischen und psychischen Gewalt in den USA stellt die Folge "Skandal" die Geschichte der Weltmeisterin am Schwebebalken Pauline Schäfer-Betz in den Mittelpunkt, die aus dem Turnzentrum in Chemnitz wegging und sich ihren eigenen Trainingssupport aufbaute. Es ist eine Geschichte, in der körperliche Demütigung und psychische Erniedrigung der Heranwachsenden durch ihre Trainerin zentral sind. Über Ähnliches hat die ehemalige Weltklasse-Turnerin Kim Bui ein vielbeachtetes Buch geschrieben, in dem es um Bulimie und andere Essstörungen unter Turnerinnen geht. Auch sie tritt in "60 Sekunden Perfektion" auf.

Wie die Amerikanerinnen tragen die deutschen Turnathletinnen inzwischen Ganzanzüge statt knapper Trikots, eine Bekleidung, die die Ästhetik des Sports unterstreicht. Umso erstaunlicher, dass etwa bei Wikipedia für Pauline Schäfer-Betz und Lukas Dauser nicht nur ihre Größe, sondern auch ihr Gewicht in Kilogramm aufgeführt wird.

Obwohl sich manches dramaturgisch zieht und obwohl auch "60 Sekunden Perfektion" in hohem Maß auf Über-Emotionalisierung setzt, die zuschauende Couch-Potatoes dort abholen und in Stimmung versetzen soll, wo sie sitzen, nämlich mit Chips und Nüsschen vor dem Gerät, ist "60 Sekunden Perfektion" auch gelungene Hintergrundinformation, selbst für bislang Nicht-Turnbegeisterte. Fußball-EM und Tour de France sind praktisch abgefrühstückt, Olympia kann kommen.

infobox: "60 Sekunden Perfektion", vierteilige Doku-Reihe, Regie und Buch: Philipp Sohmer, Pauline Tratz, Kamera: Arun Hüttemann, Felix Hugenschmidt u.a. (ARD/SWR, Folgen 1 bis 3 seit 15.7.24 in der ARD-Mediathek, Folge 1 am 20.7.24, 18.15-19.00 Uhr im Ersten, alle vier Folgen am 25.7.24, 1.05-4.00 Uhr im SWR)



Zuerst veröffentlicht 27.07.2024 11:13 Letzte Änderung: 29.07.2024 12:48

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Dokumentation, Hupertz, NEU

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