09.08.2024 07:20
epd Sawsan ist eine von mehr als 5.000 Jesidinnen, die im Nordirak von Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS) entführt und versklavt wurden. Acht Jahre lang sei sie "völlig wehrlos und ausgeliefert" gewesen, sagt sie vor der Kamera in Deutschland. Ihr Leben sei in Dunkelheit versunken, "diese alles verschluckende Dunkelheit", fügt sie unter Tränen hinzu. Ob es eine kurze Pause geben solle, hört man den unsichtbaren Interviewer fragen. Nein, erwidert die 26 Jahre alte Jesidin: "Ich möchte weiter erzählen." Am Ende des Dokumentarfilms "Bemal - Heimatlos" sieht man Sawsan tanzend bei einem Fest. Für Autorin Düzen Tekkal sind die jungen Frauen und Männer, deren Lebenswege hier zehn Jahre nach dem Völkermord geschildert werden, "nicht nur Überlebende, sondern die Gesichter einer neuen Generation der Resilienz".
Auch Tekkal muss, wenn man so will, weiter erzählen. Trotz tieftrauriger Familienschicksale vermeidet sie einen gefühligen Betroffenheits-Tonfall. "Bêmal - Heimatlos" ist ihr dritter Film, in dem sich die in Deutschland geborene Journalistin mit kurdisch-jesidischen Wurzeln mit dem Genozid an ihrem Volk beschäftigt. Nur wenige Tage, nachdem der IS im August 2014 in Shingal und den umliegenden Orten im Nordirak eingefallen war, war sie mit ihrem Vater in die Region geflogen. Ihr Film "Háwar - Meine Reise in den Genozid" von 2015 belegte den Schrecken mit unmittelbarer Wucht und wurde unter anderem bei den Vereinten Nationen und im Deutschen Bundestag gezeigt. Fünf Jahre später folgte "Jiyan - Die vergessenen Opfer des IS". Nun legt Düzen Tekkal mit Co-Autor David Körzdörfer zum zehnten Jahrestag erneut nach.
"Bemal - Heimatlos" ist auch ein Film über sie selbst. Der Völkermord hat aus der Journalistin eine Menschenrechtsaktivistin und Sozialunternehmerin werden lassen, die mit ihren Schwestern den Verein "Háwar.help" und die Initiative "Germandream" gründete. Dies legt die Autorin offen, ohne sich unangemessen in den Vordergrund zu rücken. Mit einer imponierenden Beharrlichkeit sorgen sie und ihr Team dafür, dass die Opfer der islamistisch-männlichen Gewalt nicht in Vergessenheit geraten und nicht nur Opfer bleiben.
Bewusst setzt Tekkal dem entwürdigenden Terror, der hier auch mit Ausschnitten aus IS-Videos bezeugt wird, Geschichten von Stärke und neuem Lebensmut entgegen. Wie im Fall der 21-jährigen Layla, die als Kind ihren Schrecken über das Erlebte in "Háwar - Meine Reise in den Genozid" vor der Kamera herausschrie und nun nach ihrer Flucht nach Deutschland als Model arbeitet. Für Layla bedeutet das Modeln "Freiheit und Stärke". Ihr Bruder Tahsin tritt als Comedian auf. Sawsans Schwester Jihan (20) wiederum liest öffentlich aus ihrem Buch "Dankbarkeit - Die schlimmste Zeit meines Lebens" vor, in dem sie die Tage des Völkermords vor zehn Jahren rekapituliert.
Tekkal und Körzdörfer stellen insgesamt vier Geschwisterpaare vor, die für unterschiedliche Aspekte stehen und klug ausgewählt sind. Sie erzählen auch vom Schicksal des Jungen Aiham, der nach jahrelanger Umerziehung in einer islamistischen Familie und nach seiner Befreiung große Probleme hat. Sein kleiner, schweigsamer Bruder Anas wurde am Tag des IS-Angriffs geboren. Wann er von seiner bis heute vermissten Mutter getrennt wurde, ist unklar. Der Film lässt erahnen, welch tiefer Einschnitt der Völkermord im Leben jeder betroffenen Familie bedeutet.
2.700 Frauen und Kinder werden nach wie vor vermisst. Aber die Weltöffentlichkeit hat das Interesse an den Jesidinnen und Jesiden unter dem Eindruck anderer Kriege und Krisen weitgehend verloren. Zehntausende leben in Flüchtlingslagern, die der irakische Staat nun schließen will, ohne sich um den Wiederaufbau zu kümmern. Dabei liegt Shingal immer noch in Trümmern, wie lange Kamerafahrten im Film verdeutlichen. Bezeichnend auch, dass das Ermittlungsteam der Vereinten Nationen (Unitad) bald seine Arbeit beendet, noch ehe alle Tote in den etwa 80 Massengräbern identifiziert wurden. Warum, erfährt man im Film nicht. Wie Golineh Atai im ZDF-"Auslandsjournal" berichtete, war es die irakische Regierung, die das Unitad-Mandat "jäh beendet" habe.
Und Deutschland? Der Bundestag verabschiedete im Januar 2023 eine Resolution, in der er die IS-Verbrechen einstimmig als Völkermord verurteilte. Deutschland nahm viele Jesidinnen und Jesiden auf, hier wurden weltweit die ersten Prozesse gegen IS-Täter geführt. Aber weil der IS als besiegt gilt, werden jesidische Familien mittlerweile wieder abgeschoben, wie Tekkal mit einem Beispiel aus Bayern belegt. Während die beiden älteren Töchter aufgrund einer Pflege-Ausbildung in Marktoberdorf bleiben durften, mussten die Eltern mit den beiden jüngeren Kindern zurück nach Shingal, wo sie erst in einer verlassenen Ruine, später im Flüchtlingslager landeten.
Düzen Tekkal konfrontiert Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit diesem Thema. Baerbock warnt vor einer "Retraumatisierung" durch Abschiebungen, will aber keine Versprechungen machen, "die wir nicht halten können". Warum bisher nur Nordrhein-Westfalen einen Abschiebestopp verhängt hat, erfährt man nicht. Und was sagt der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zu dem Fall aus Marktoberdorf?
So gibt es zwar einige Unschärfen in Tekkals Film, aber ihr gründliches und empathisches Erinnern an die fortdauernden Verbrechen hätten nicht nur der Mediathek, sondern auch dem linearen Programm gut zu Gesicht gestanden. Zwar strahlte die ARD Beiträge zum Völkermord an den Jesiden sowohl im "Weltspiegel" als auch am 3. August in "Tagesschau" und "Tagesthemen" aus, aber der intensive und umfassende Blick, der lange Dokumentarfilme auszeichnet, fehlte im Ersten.
infobox: "Bemal - Heimatlos", Dokumentarfilm, Buch und Regie: Düzen Tekkal, David Körzdörfer, Produktion: German Dream Productions (ARD-Mediathek/RB/SWR, seit 2.8.24)
Zuerst veröffentlicht 09.08.2024 09:20 Letzte Änderung: 14.08.2024 12:48
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KRB, KSWR, Tekkal, Körzdörfer, Gehringer, NEU
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