Die Liebe in mittleren Jahren - epd medien

17.08.2024 20:55

Die Comedy-Serie "Perfekt verpasst" entfaltet eine Geschichte über verpasste Chancen und neue Möglichkeiten in Mittelhessen. Bastian Pastewka und Anke Engelke spielen bei Amazon Prime Video in Höchstform.

Ralf (Bastian Pastewka) und Maria (Anke Engelke)

epd Wer nach Marburg kommt, ist entweder Student, Tourist, überzeugter Mittelhesse oder irgendwie dortgeblieben. Weil es hier, in der nicht zu großen, aber auch nicht zu provinziellen Stadt reichlich "Wohlfühlatmosphäre" gibt. In Marburg, so scheint es, kann man verwurzelt sein und zugleich weltoffen, man kann finden, dass "Mittelhessen rockt", man kann sich engagieren im Förderprogramm "Starke Heimat Hessen", in der Einzelhandelsinitiative "Kauf lokal" oder im reichen Kulturleben, unter knapp 80.000 Einwohnern. Verwundert es bei so reichhaltigen Möglichkeiten, dass sich Zwei über den Verlauf von zehn Jahren immer und immer wieder gerade so verpassen, oft um eine Körperdrehung oder einen Wimpernschlag? Dieses "gerade so" gäbe es nicht in Berlin, nicht in Frankfurt am Main, nicht in Köln. In Marburg ist es zu glauben.

In der Serie "Perfekt verpasst" scheint das ursächliche Prinzip des Aneinandervorbeigehens am richtigen Ort. Die Stadt ist groß genug, um nicht nur eine, sondern drei Buchhandlungen zu beherbergen, aber es reicht nur für ein sehr gut sortiertes inhabergeführtes Sportgeschäft. In "Perfekt verpasst" ist es "Sport Hartmann", dessen Besitzer nicht bloß Körperertüchtigungszubehör verkauft, sondern ein Muster an Professionsliebe ist. Einer, der jedem Kunden nicht nur die Schuhgröße ansieht, sondern mutmaßlich auch Spreiz- oder Plattfüße. Im Marburg von "Perfekt verpasst" lässt die Polizei bei Strafzetteln mit sich reden, was für den Fortgang der Geschichte genauso essenziell ist wie unzählige andere scheinbare Sonderbarkeiten einer Mittelstadt, die hier zum exakt passenden Timing nötig sind.

Noch nicht am Ende

Neben Marburg spielen in dieser achtteiligen, überromantisch ernsthaften Verwechslungs- und Verpassungskomödie Anke Engelke und Bastian Pastewka mit. Was fatal untertrieben ist. Denn Anke Engelke, Buchhändlerin Maria Lampe, und Bastian Pastewka, Sportgeschäftsinhaber Ralf Hartmann, spielen ihre mittelalten mittelhessischen Figuren nicht nur auf den Punkt genau, sie sind auch die Ideengeber dieser Amazon-Prime-Serie, haben an den Büchern mitgeschrieben, mitproduziert. Sie singen sogar und Pastewka spielt überdies Piano und Keyboard.

Sie sind zwei irgendwie komische und komisch-ernste Menschen, mittelerfolgreich, mittelgescheitert, aber noch nicht am Ende. Das Besondere dieser Serie, die zwischendurch auch mal puppenlustig ist: Maria und Ralf sind nicht nur die, die sie sind, sondern, spätestens als sie sich im fernen, mondänen Köln treffen, auch die, die sie sein könnten oder sein wollten.

Sie erfinden sich in der Begegnung neu: Steve und Anita. Beide in melancholischer Stimmung. Ralf, weil er seine älteste Tochter Lily (Lea Freund) gerade zum Studium in die Stadt gebracht hat; Maria, weil sie ihren Nonnen-Krimi-Romananfang endlich bei einem Verlag untergebracht wähnte und erfahren musste, dass sie bloß als Ghostwriterin für ihre ehemalige Freundin Johanna (Henny Reents) unterschreiben sollte. Für die Frau, die Marias Konzept klaute und nun als Bestsellerautorin gefeiert wird.

Aus dem Tief- wird ein Wendepunkt, beide erfinden sich für eine Nacht neue Leben, eine aufregendere Vergangenheit ohne Mittelmaß und, womöglich, eine gemeinsame Zukunft. Bevor, anders geht es nicht und wäre cheesy, ein klassisches Komödien-Missverständnis die Möglichkeit eines Happy Ends in Zweifel zieht.

Strapazierte Erwartungshaltung

"Perfekt verpasst" ist, wie alle Kunstwerke, die sich mit Scherz, Satire und tieferer Bedeutung befassen, auch eine todernste Angelegenheit. Eine, die zu denken gibt über das Unglück und das Glück, den Zufall und die Einsicht, dass wir stets Tür an Tür mit einem anderen Leben leben und was das bedeutet. Zwei fiktive Charaktere, die auf meist ähnliche, teils komplementäre Weise eigenwillig sind, können die Erwartungshaltung des Publikums sehr strapazieren, man leidet mit ihnen, bemitleidet sie, muss sie bewundern und findet sie zugleich schrecklich verpeilt und überkomplizierend. In "Perfekt verpasst", das ist das Erstaunliche an dieser wenig traditionellen RomCom, spielen Engelke und Pastewka eben nicht nur den Wirklichkeits-, sondern auch den Möglichkeitsspielraum ihrer Figuren mit, jeder für sich und beide miteinander.

Die Serie beginnt und endet auf dem Marburger Stadtfest, dazwischen liegt eine Dekade. Schon 2014 hätten sich Maria und Ralf nebeneinander in der Überschlagschaukel beim Stromausfall kennenlernen können. Erst einmal treffen sich bloß ihre Hände. Parallel und über Kreuz, zum Teil im Splitscreen montiert, geht es weiter. Maria macht mit Max (Serkan Kaya) rum, der ihre beste Ex-Freundin Nikki (Fritzi Haberland) heiraten will. Ralf wird von Heike (Caro Scrimali) geschieden, die gleich einen Neuen hat, und sorgt sich um Tochter Lotta (Momo Beier).

Botschaften im Staub

In den ersten Folgen ist die Gagdichte noch recht hoch, Engelke und Pastewka geben Proben ihrer satirischen Figurenverdichtung zum Besten. Ralfs Fitnessuhr wird vorübergehend zum Running Gag. Marias Schreibblockade wird mit erheiternden Mitteln bekämpft. Bemerkenswert: Alle Nebenfiguren, Marias Vater Wilhelm (Michael Wittenborn), sein Lebensgefährte Jochen Zwei (Peter Jordan), Love Interest Hakan (Edin Hasanovic) und andere, sind liebevoll ausgestaltete Personen, keine Funktionsträger.

Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Maria und Ralf über Jahre auf dem selben geparkten Auto im Staub Botschaften füreinander hinterlassen, aber das ist dichterische Freiheit. Buch und Regie gestalten überaus präzise, die Kamera genauso, und der Schnitt ist überragend. Komisch und traurig, hoffnungs-, würde- und liebevoll, mittelhessisch, aber nicht medioker, ist "Perfekt verpasst" auch eine Hommage an den unterschätzten Reichtum der Liebe erwachsener Menschen in mittleren Jahren.

infobox: "Perfekt Verpasst", achtteilige Comedy-Serie, Regie: Sabine Boss, Nicolas Berse-Gilles, Buch: Sebastian Colley und Claudius Pläging (Headautoren), Sintje Rosema, Fabienne Hurst, Kamera: Claire Jahn, Produktion: btf (Amazon Prime Video, seit 15.8.24)



Zuerst veröffentlicht 17.08.2024 22:55 Letzte Änderung: 19.08.2024 10:09

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Serien, KPrime, Amazon Prime Video, Hupertz, NEU

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