Blaue Rosen - epd medien

31.08.2024 12:00

Vor 100 Jahren veröffentlichte André Breton als Vordenker das Manifest des Surrealismus, das diesen als "reinen psychischen Automatismus" definierte. Georg Zeitblom versucht in seinem Hörspiel "Manifest 24", die Spannweite des surrealistischen Programms zu erschließen.

Die Surrealisten um André Breton (oben rechts) 1923 auf dem Markt von Montmartre in Paris

epd Weg mit Konventionen und Kontrollvernunft! Frei soll der Bewusstseinsstrom fließen! Einfallsreichtum soll er gewinnen, indem er den Traum und das Unbewusste einbezieht. André Breton war Vordenker der Surrealisten und ein besonderer Freudianer, der nicht auf Analyse, sondern auf Wachstum setzte: auf den Zustrom frischer Einfälle durch freie Assoziationen und Traumprotokolle. Mit Mitstreitern verfasste er das Manifest des Surrealismus, das vor 100 Jahren veröffentlicht wurde.

Mit Schwung erweiterte diese Programmschrift den Begriff Surrealismus, den Apollinaire sieben Jahre vorher mit seinem Manifest "Esprit Nouveau" in die Debatte und in die Pariser Künstlerszene gebracht hatte. Bretons Surrealismus sollte jedoch nicht nur Literatur, sondern Bewusstsein, Kunst und Leben verändern. Dieser Anspruch weckte Aufsehen und entfachte Kontroversen, vor allem aber entwickelte er internationale Anziehungskraft und lockte höchst unterschiedliche junge Künstler wie beispielweise Giorgio di Chirico, Max Ernst, Salvador Dalí, Luis Buñuel Ende der 1920er Jahre nach Paris.

Tastender Sprecher

Georg Zeitblom, der 2019 mit dem ausgezeichneten Hörspiel "Audio. Space. Machine" (DLF/NDR/SWR) 100 Jahre Bauhaus-Bewegung eigenwillig musikalisch feierte, vertieft sich nun mit seinem Hörstück "Manifest 24" erneut akustisch in Grundlagen und Weiterwirken einer Avantgarde-Bewegung. Zeitbloms Textarrangement versucht, die Spannweite des surrealistischen Programms zu erschließen. Sabin Tambrea profiliert sich in diesem Stück als tastender, nachdenklicher Sprecher: Gespannt hören wir hier einem Pionier bei der Suche nach neuen Wegen und Gedankengängen zu.

Tambrea, der Breton intepretiert, lässt uns teilhaben an einem Programm im Werden, indem er zentrale Sätze zunächst zerlegt und Wortgruppen stockend testet durch Verschiebungen und Wiederholungen, als formuliere er sie gerade erstmals versuchsweise, ehe er ausstrahlende Schlüsselbegriffe wie Freiheit, Imagination, Poesie wiederholt hervorhebt und schließlich Sätze als ganze auskostet. "Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik", heißt es da, "aber die logischen Methoden unserer Zeit wenden sich nur noch der Lösung zweitrangiger Probleme zu ... Es geht darum, zu den Quellen der Imagination hinabzusteigen und vor allem dort zu bleiben." Dort, in Dunkelkammern des Bewusstseins und des Unbewussten, sind Entdeckungen zu machen, locken und drohen verdrängte Realität und verdrängte Träume, Stoffe zur "Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme".

Wabernde Alarmsignale

Zeitbloms Textarrangement fasziniert. Hingegen bleibt der Soundtrack, der das gesamte Hörstück wie eine Art Bewusstseinsstrom grundiert, weitgehend flach. Warum? Ausgerechnet die Klangkomposition zur Präsentation einer Bewegung, die mit der Kunst auch der Person des Künstlers Nachdruck und neuartiges Profil gibt, liefert hier eine Künstliche Intelligenz. Diese generiert aus einem Streichquartett mehr oder weniger minimalistische Klänge und greift großflächig elektronisch um sich.

Diese KI hat unüberhörbar keine Lust am freien Spiel. Von Überraschungen und Verblüffungsmomenten keine Spur. Anstatt dass gemäß surrealistischen Wunschvorstellungen auch im Soundtrack aus der Tiefe des Unbewussten dann und wann ein springlebendiger Einfall auftaucht, macht sich ein kompaktes Regelwerk breit, das bisweilen an wabernde Alarmsignale erinnert.

Zum Glück behält Sabin Tambrea als Fürsprecher des Surrealismus in Zeitbloms Montage durchweg eine dominante Rolle: "Wir fordern eine Realität, die nicht festgelegt ist, sondern ständig im Fluss, neue und unerforschte Dimensionen zu offenbaren. Wir fordern eine Rebellion gegen die Realität, die uns einlädt, durch den Schleier des Gewöhnlichen zu blicken und das Unerklärliche zu erfassen". Hoffnungsvoll versetzt das Hörstück am Ende die blaue Blume der Romantik in die Gegenwart von 1924 und heute: "In diesem Sommer sind die Rosen blau."

infobox: "Manifest 24", Hörspiel, Regie, Buch und Musik: Georg Zeitblom (DLF/DLF Kultur, 24.8.24, 20.05-21.15 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 31.08.2024 14:00

Eva-Maria Lenz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KDLF, Zeitblom, Lenz

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