03.09.2024 07:40
epd Hartmut Rosa spielt Alice Cooper auf der Kirchenorgel: In leicht entrückter Pose spürt der Starsoziologe der transzendentalen Kraft des Heavy Metal nach. Diese Szene steht am Anfang der 3sat-Doku "Erfüllter leben mit Heavy Metal", die mit soziologischen Begriffen die Faszination des Genres zu fassen versucht - und dabei die Sphäre des Religiösen streift. Warum hören Millionen Menschen eine Musik, die für viele Andere nur brachialer Krach ist, lautet die Leitfrage.
Rosa, Professor an der Universität Jena und mehrfach ausgezeichneter Autor, ist bekennender Metal-Fan. In seiner Jugend spielte er Synthesizer in einer Band. Und er ist Erfinder des Resonanzbegriffs, mit dem er die Voraussetzungen für ein "gutes Leben" zu umschreiben versucht: Im Zustand der "Resonanz" fühle sich der Mensch auf besondere Weise mit seiner Umwelt verbunden und überwindet die für die Moderne kennzeichnende Selbst- und Weltentfremdung zumindest vorübergehend, so die verkürzte These.
Weil Rosa im Verhältnis der Metal-Fans zu ihrer Musik und untereinander ein besonders eindrückliches Beispiel resonanter Weltbeziehung sieht, hat er dazu eine "kleine Soziologie des Heavy Metal" verfasst mit dem Titel "When Monsters Roar and Angels Sing". Der physisch durchdringende Sound verzerrter Gitarren, archaische Bilder von Tod und Siechtum sowie epiphanische Konzerterlebnisse schaffen demnach existenziell berührende Momente, die den Fans Halt im Leben geben.
Die Dokumentation ist der Film zu Rosas Metal-Schrift: Der Soziologieprofessor geht auf die Reise, um seine Resonanzthese einem empirischen Check zu unterziehen. Die Kamera begleitet ihn unter anderem in den heimatlichen Schwarzwald, wo er mit früheren Mitgliedern seiner Jugendband den alten Proberaum inspiziert. Gemeinsam erinnern sich die drei Endfünfziger an die "Power" ihrer ersten Auftritte, die sich aufs Publikum übertrug, obwohl sie kein musikalisches Talent hatten.
Beim Wacken Open Air geht Rosa der Frage nach, ob das Festival "ein Ort multipler Resonanzerfahrung" ist. Musiker und Fans kommen zu Wort, darunter der Psychologe Nico Rose. Der sagt, dass 40 Prozent der Fans angeben, dass "Metal mir schon mal das Leben gerettet hat". Zeitlupen-Bilder von Headbangern halten Momente der Entrückung fest. Und die Bilder vom Festival zeigen, dass die Energie des Metals sich nicht zuletzt aus dem Gemeinschaftserlebnis speist.
So vermittelt sich die besondere Faszination, die diese Subkultur auf ihre oft dämonisch kostümierten Anhänger ausübt. Die Bilder veranschaulichen das Resonanztheorem, das der Starsoziologe in eingeschobenen Interview-Sequenzen erläutert. Dem Metal schreibt er die Kraft zu, eine Welt wieder zu verzaubern, aus der in der säkularen Moderne "Magie und Farbe gewichen" sind. In ihrer Rauheit und Härte bringe die Musikrichtung keine versöhnte und harmonische, sondern eine verzerrte Realität zum Vorschein. Das sei befreiend.
Die Ausführungen über die kompensatorische Funktion des Metal sind nachvollziehbar und plausibel. Dennoch wirkt es etwas bemüht, wenn der Professor die Fans in Wacken fragt: "Habt Ihr solche starken Berührungserfahrungen schon gemacht?" Die meisten Antworten fallen erwartbar aus: "Es ist ein Sprung aus dem Alltag", "Man kann sich ein wenig austoben", oder "Da hab ich noch gar nicht darüber nachgedacht". Der Zuschauer fragt sich, ob das als Beleg einer spezifischen Transzendenzerfahrung gelten kann.
Auch wenn die als Queen of Heavy Metal titulierte Doro Pesch, eine Pionierin des Genres, mit ungekünstelter Begeisterung schildert, dass sie "wahnsinnig gerne positive Energie rausgibt", wird deutlich: Was der Professor in soziologische Begriffe kleidet, kann man auch weitaus schlichter formulieren.
Weiteren Erkenntnisgewinn liefert Rosas Besuch der Ausstellung "Heavy Metal in der DDR" in der Berliner Kulturbrauerei. Dort lässt er sich vom Historiker Nikolai Okunew erläutern, wie Metal im sozialistischen Osten Deutschlands seine widerständige Kraft entfaltete. Und zwar nicht, weil Musiker und Fans bewusst umstürzlerisch agierten, sondern weil der im Genre artikulierte Wunsch nach persönlicher Freiheit ein Dorn im Auge des Machtapparats war.
Unterdrückung, Schikanen, Verbote gehörten zum Metal-Alltag im Osten. Im Westen dagegen "galt der Metal schon kurz nach seiner Entstehung als systemkompatibel", erläutert der Off-Kommentar: "Weniger Rebellion, mehr Eskapismus."
"Erfüllter Leben mit Heavy Metal" zeichnet in 37 Minuten das vielschichtige Bild einer popkulturellen Szene, die sich über die Jahre vom Außenseiter- zum Mainstreamphänomen gewandelt hat. Von zahlreichen anderen Metal-Dokus, die das Genre als bloße Freak-Show inszenieren, hebt sich der Film mit seinem soziologischen Ansatz ab. Er gerät aber in Gefahr, den Gegenstand seiner Betrachtung esoterisch zu überhöhen.
Wenn Rosa sich selbst unter die Metal-Fans mischt, wirkt er eher zurückhaltend. Vor der Wacken-Bühne, im flackernden Schein der Lichtershow, kommt der Soziologe, der auf der Suche nach Transzendenzmomenten jenseits des Alltags ist, nicht wirklich aus sich heraus. Er wiegt leicht den Kopf - nur die für Sekunden geschlossenen Augen und ein feines Lächeln lassen den Moment der Resonanzerfahrung vermuten.
infobox: "Erfüllter leben mit Heavy Metal", Dokumentation, Regie und Buch: Isabell Roempke, Kamera: Leonard Kessler, Florian, Henke, Patrick Meyer-Clement, Produktion: Kobalt Productions (3sat/ZDF, 24.8.24, 19.22-20.00 Uhr und bis 24.8.29 in der 3sat-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 03.09.2024 09:40
Schlagworte: Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), K3sat, Dokumentation, Fuhr
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