13.09.2024 08:10
epd Seit "Big Brother" die Welt eroberte, sind in einer unüberschaubaren Zahl vergleichbarer Sendungen Menschen in Container, Dschungelcamps oder französische Landsitze einquartiert worden, um Aufgaben zu lösen und sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Nach 25 Jahren hat dieses verzichtbare TV-Genre erstmals ein nicht nur wegen seiner gesellschaftlichen Relevanz preiswürdiges Konzept hervorgebracht. "Against All Gods" ist von einer Relevanz, die einen Vergleich mit Formaten wie "Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!" fast ehrenrührig erscheinen lässt.
Schon der Titel ist genial. Die Anspielung auf die englische Redensart "against all odds" ließe sich - wie auch das gleichnamige Hollywood-Drama (1984) über eine unmögliche Liebe - mit "gegen alle Widerstände" übersetzen. Tatsächlich verspricht die Konstellation mehr Konfrontation als jedes der anderen Sozialexperimente, denn die sechs Personen, die eine knappe Woche gemeinsam unter einem Dach verbringen, könnten kaum unterschiedlicher sein: Fünf repräsentieren die großen Weltreligionen, die sechste ist Atheistin und entpuppt sich außerdem zur Verblüffung der anderen als Transfrau. Religionen, sagt sie, schlössen queere Menschen aus.
Natürlich funktioniert das Format nur, weil die fünf die Regeln ihres Glaubens strikt ausleben. Die jeweiligen heiligen Schriften haben nicht bloß erheblichen Einfluss auf ihren Alltag, sondern auch auf ihre weltanschaulichen Haltungen, weshalb bestimmte Konflikte beinahe unausweichlich sind: In einem Weltbild, das allein Männer und Frauen kennt, haben Transpersonen keinen Platz; und wenn die Toleranz für gleichgeschlechtliche Beziehungen endet, sobald es um das Sakrament der Ehe geht, sind die Positionen unvereinbar. Den größten Zündstoff birgt allerdings der Nahostkonflikt, der immer wieder thematisch aufflammt.
Zunächst scheint "Against All Gods" in der Tat auf Krawall gebürstet, denn am Anfang sind Aussagen zu hören, die in ihrer Kompromisslosigkeit Gespräche gar nicht erst zuzulassen scheinen. "Ich bedaure Menschen, die meinen Glauben nicht teilen" zum Beispiel, oder: "Der Islam bleibt eine Gefahr für die freie Welt".
Später stellt sich allerdings heraus, dass sich Aurelia Kanetzky und Katharina Reinartz einen kleinen Schwindel erlaubt haben, denn die vermeintlichen Zitate stammen nicht von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Einige stammen aus Postings, zu denen sie in einer späteren Folge Stellung nehmen sollen, andere sind Teil der ersten Ausgabe: Die sechs sollen ihre Zustimmung oder Ablehnung bekunden, indem sie auf zwei Sofas mit "Ja"- und "Nein"-Kissen Platz nehmen. Wer zwischen religiöser Vorgabe und persönlicher Meinung hin- und hergerissen ist, bleibt einfach stehen - zwischen den "Stühlen". Der clevere Einstieg schafft nicht nur eine fruchtbare Diskussionsgrundlage, sondern auch die Basis für ein fröhliches Schlussbild knapp 180 Minuten später, als sich alle auf einem Sofa knubbeln.
Nicht nur für die Idee der "Glaubens-WG" gebührt den beiden Autorinnen - Kanetzky führte zudem Regie, Reinartz produzierte die Reihe - ein Lob, sondern auch für die Zusammenstellung des Sextetts, auch wenn es keine allzu große Überraschung ist, dass die ausnahmslos sympathischen und differenziert argumentierenden Teilnehmer im Verlauf der sechs Folgen ihre Vorbehalte überwinden und schließlich feststellen: Es gibt ganz viel, was sie verbindet, zumal der Kern aller Religionen die Liebe ist. Alle sind zwischen Mitte und Ende 20 und in Deutschland aufgewachsen.
Da sie überdies auf die eine oder andere Weise Minderheiten angehören, haben sie ausnahmslos Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht und eine entsprechende Sensibilität entwickelt. Das sind jedoch bloß Lebenslaufdetails, die zwar eine gute Voraussetzung für lebendige Diskussionen liefern, aber keine Garantie für die Entwicklung sind, die sich nun vollzieht: Am Ende sind derart innige Beziehungen entstanden, dass sich daraus echte Freundschaften entwickeln können.
Drittes großes Plus der Reihe ist neben Konzept und Casting die Machart. Die Anmutung ist auch dank des Berliner Hauses, in dem das Sextett untergebracht ist, hell, freundlich und mitunter kunterbunt. Zwischenschnitte auf Details des Interieurs sorgen für Abwechslung: hier ein im Farn platzierter Saurier mit Kerzen auf dem Rücken, unterlegt mit "Jurassic Park"-Sound, dort ein Kruzifix mit Jesus als Bungee-Jumper. Die für solche Formate obligaten Einzelgespräche, in denen die sechs die Ereignisse kommentieren, wurden in wechselnden Räumlichkeiten sowie im Garten aufgezeichnet. Witzig sind auch die meist originellen Zwischentitel ("Holy Shit").
Damit die Gespräche nicht unstrukturiert vor sich hin mäandern, bekommt das Sextett immer wieder Vorgaben, die oft Heiterkeit, zuweilen aber auch große Emotionen hervorrufen, wenn es um tiefe Verletzungen geht, es fließen viele Tränen. Exkursionen wie der Besuch des Denkmals zur Erinnerung an die Bücherverbrennung liefern weiteren Diskussionsstoff.
Für Input von außen sorgen mehrere Gäste. Sabine Rückert lässt die sechs über einen Fall aus ihrem "Zeit"-Podcast "Verbrechen" diskutieren, im Gespräch mit der Journalistin und Feministin Maria Popov geht es um den Themenkomplex Sex und Beziehung. An dem Gespräch nimmt auch die zum Islam konvertierte Frau des Moslems teil. Sie berichtet unter anderem, wie ihr Vater reagiert hat, als sie eines Tages mit Kopftuch heimkam. Gemessen an der Lebhaftigkeit dieser Diskussionen wirkt der abschließende Austausch mit Jürgen Trittin sehr staatstragend - da wäre ein jüngerer Politiker wie etwa Kevin Kühnert vermutlich die bessere Wahl gewesen.
infobox: "Against All Gods - Die Glaubens-WG", sechsteiliges Sozialexperiment im Rahmen der Reihe "37 Grad Leben", Regie: Aurelia Kanetzky, Buch: Aurelia Kanetzky, Katharina Reinartz, Kamera: Johannes Obermaier, Philip Henze, Produktion: Zoo Productions (ZDF, am 15., 22., 29.9., 17., 24.11. und 1.12.24, jeweils 9.03-9.30 Uhr sowie ab 13.9.24 in der ZDF-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 13.09.2024 10:10
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Gangloff, Kanetzky, Reinartz
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