17.09.2024 07:40
epd "Forscher entschlüsseln Sprache der Schweine" - diese Schlagzeile ging im März 2022 um die Welt. Seinerzeit gelang es Forschern, aus 7.000 Audios von 411 Schweinen einen Code zu generieren, der ihre unterschiedlichen Gefühlszustände offenbart. Doch die Versuche fanden in isolierten Laborsituationen statt. Für diese Dokumentation schlossen Produktionsfirma und auftraggebende Sender nun eine Exklusivvereinbarung mit der internationalen Forschergruppe, um die völlig neue Wissenschaft erstmals im Alltag der Schweine anzuwenden, wie der NDR-Pressetext erklärt.
In neun Schweinezuchtbetrieben wurden Aufnahmegeräte installiert, die eine Woche lang jeweils 15 Minuten pro Stunde die Stallgeräusche aufzeichneten. Das Audiomaterial diente dann als Input für den Algorithmus der Forscher. Doch so einfach es klingt - und so allmächtig Künstliche Intelligenz (KI) erscheint: Beim Auslesen der Emotionen stießen die Forscher auf unerwartete Probleme. Was im isolierten Laborstall eindeutig war, erwies sich im realen Leben als Kakofonie. Unzählige Hintergrundgeräusche überlagerten das Schweinegrunzen und verunmöglichten eine Analyse.
Die Dokumentation von Miki Mistrati wird ab diesem Punkt zu einem Protokoll der mühsamen Forschung. Sie zeigt die Bemühungen der Wissenschaftler, ihr KI-Trainingsmaterial auszufiltern. Am Ende dauert das über ein Jahr. Die Leiterin Elodie Mandel-Briefer von der Universität Kopenhagen merkte nach zehn Monaten, dass die Computertechnik allein nicht reicht. Die KI braucht Nachhilfe von menschlichen Experten aus Israel und Kenia.
Ein seltsamer Reiz geht vom filmischen Kontrast der Lebenswelten aus. Hier der ostfriesische Schweinezüchter Eiken Struve, der auch in seinem konventionellen Mastbetrieb täglich zweimal nach dem Befinden seiner 1.800 Tiere schaut, dort die kühle Welt der Computermonitore, auf denen die Daten für maschinelles Lernen flimmern. Regisseur Mistrati erzählt parallel von künstlichen und realen Welten. Dabei kommt er nicht ohne die standardmäßigen Drohnenflüge über das weite Land aus - und fügt zwischendrin verschneite Panoramen ein, um das rasche Verstreichen der Zeit zu illustrieren. Die eigentlichen Protagonisten, die Schweine, rücken hauptsächlich als Probanden ins Bild: vor den Kameras, die ihre Mimik digitalisieren, oder in kurzen Stallszenen.
Als die Probleme mit den Nebengeräuschen gelöst sind, warten auf das Team und die Zuschauer Überraschungen. Wenig erstaunlich ist, dass in konventionellen Mastbetrieben 41 Prozent der Tiere Emotionen wie Stress und Schmerz offenbarten. Doch in Bio-Betrieben mit dreimal so viel Platz für die einzelnen Tiere waren es sogar 44 bis 56 Prozent. Und ausgerechnet im Betrieb des konventionellen Schweinezüchters Struve zeigten nur vier Prozent der Schweinegeräusche Stress.
Entscheidend ist offenbar, wie fürsorglich die Tierhalter agieren. Tierwohl sei nicht der Kerngedanke in der Bio-Haltung, gibt Verhaltensbiologin Sandra Düpjan zu bedenken. Es sei ein romantisierender Gedanke, dass dort die Schweine das ganze Jahr über im Freien auf Wiesen mit Hütten lebten.
So entzaubert dieser Film nicht nur die vermeintliche Macht der KI, sondern auch die für die meisten Konsumenten angenehm unsichtbare Welt der Fleischproduktion, die sich allein mit Tierwohl-Labels nicht verändern wird. Am eindrucksvollsten aber ist, dass sich Miki Mistrati konsequent dem Sensationalismus verweigert. Auch die in der Philosophie diskutierte Frage, ob Tiere ein Bewusstsein oder gar Persönlichkeiten haben, spart er aus.
Den Hype um "sprechende" Schweine reduziert die Dokumentation kühl auf die Frage nach dem Tierschutz und die Tatsache, dass ein gesunder Tierbestand Voraussetzung für eine erfolgreiche Produktion ist. Die Welt der Schweine bringt diese Dokumentation zwar nicht wirklich näher, aber sie ist ein deutlicher Appell zu mehr Achtsamkeit - vom Stall bis zum Teller.
infobox: "Sprechende Schweine - KI übersetzt Tiersprache", Dokumentation, Regie und Buch: Miki Mistrati, Kamera: Jakob Johansen, Phillipe Bellaiche, Per Fredrik Skiöld, Produktion: Snowman Productions (NDR/DR/NRK/RTS/SVT, 10.9.24, 0.05-1.20 Uhr und bis 4.9.26 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 17.09.2024 09:40
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KNDR, Dehler, Dokumentation
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