20.09.2024 12:32
epd Deutschen Medien wird gelegentlich vorgeworfen, sie nähmen bei internationalen Themen die deutsche Perspektive zu wichtig. Nahrung für diese Kritik liefert auch eine beiläufige Szene aus dem Büro des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko in Kevin Macdonalds und Edgar Dubrovskiys Dokumentarfilm "Klitschko - Der härteste Kampf". Es ist ein Tag nach einem russischen Angriff auf Kiew im Winter 2022, als Oksana Zynovieva, die Kommunikatonschefin des Bürgermeisters, Klitschko von einer Interviewanfrage berichtet: "Später, um 15.30 Uhr, ist das deutsche Fernsehen da. Sie wollen wissen, ob der Angriff eine Reaktion auf die Lieferung der Leopard-Panzer war. Wir können sagen, dass sie uns regelmäßig beschießen."
Bedenkt man, wie viele wichtige inhaltliche Fäden die Filmemacher in diesem Dokumentarfilm zusammenführen, ist es erfreulich, dass für diese kleine Beobachtung Zeit bleibt. Macdonald und Dubrovskiy geben einen Blick in den Kriegsalltag in Kiew, zeigen den bis zur Erschöpfung umtriebigen Bürgermeister als Kümmerer und Menschentröster, begleiten seinen Bruder Wladimir, der als prominenter Privatmann international um Unterstützung für die Ukraine wirbt, und greifen Marksteine der Geschichte der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit auf.
Nicht zuletzt rekapitulieren sie die Boxkarrieren beider Klitschko-Brüder - unter besonderer Berücksichtigung politisch aufgeladener Kämpfe. "Ich widme meinen Sieg allen in der Ukraine, die für Demokratie und die Zukunft kämpfen", sagte Vitali Klitschko 2004, als nach einem Weltmeisterschafts-Erfolg gegen Danny Williams orangefarbenenes Konfetti in den Ring regnete - eine Anspielung auf die ukrainische Protestbewegung Orange Revolution. "Klitschko - More than a fight" - der Originaltitel dieser internationalen Koproduktion, der dem Publikum mehr Deutungsmöglichkeiten gibt als der deutsche - ist vom Ausspruch eines Kommentators dieses Kampfs inspiriert.
So wenig Zeit für die Macher für einzelne Aspekte zur Verfügung haben: Weil sie ihr Archivmaterial intelligent auswählen und montieren, hat man nie den Eindruck, hier komme etwas zu kurz.
Kevin Macdonald hatte sich vorgenommen, "einen politischen Film zu machen, der sich wie ein Sportfilm anfühlt", und Sportfilm-Charakter hat hier vor allem die Rivalität zwischen Vitali Klitschko und Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Animosität nahm - jedenfalls legt der Dokumentarfilm diese Sichtweise nahe - ihren Anfang, als der heutige Präsident noch ein Comedian war. Zu der Zeit verhöhnte er den Bürgermeister Klitschko wegen dessen manchmal etwas linkischen öffentlichen Auftritten.
Beide teilen hart aus: Nach dem Krieg müsse die Ukraine ein "echter demokratischer Staat" werden und kein "Russland 2.0", sagt Klitschko bei einem Gespräch mit dem amerikanischen Außenminister Antony Blinken in Washington. Das könnte eine Szene für die Geschichtsbücher werden. Es kommt eher selten vor, dass Dokumentarfilmer oder Journalisten dabei sind, wenn ein bekannter Politiker eines Landes im direkten Gespräch mit dem wichtigsten Verbündeten den eigenen Präsidenten angreift.
Selenskyj wiederum sagt, Klitschko gehöre zu den "inneren Feinden" der Ukraine. Er nennt den Ex-Boxer nicht namentlich, formuliert es aber so, dass jeder weiß, wer gemeint ist. Die Äußerung fällt, nachdem drei Menschen gestorben sind, weil bei einem russischen Angriff in Kiew die Tür eines Schutzbunkers verschlossen blieb. Selenskyj macht den Bürgermeister für das Unglück verantwortlich.
Der dramaturgische Höhepunkt des Films steht im Kontext dieser Beschuldigungen: Das Filmteam ist dabei, als ein Mitarbeiter Klitschko Unterlagen vorlegt, die dokumentieren, dass eigentlich die Militärverwaltung des Präsidenten für die Schutzräume verantwortlich ist - und nicht der Bürgermeister. In der nächsten Szene fragt eine Journalistin Klitschko nach einem Kommentar zu Selenskyjs Äußerungen. Er überlegt, entscheidet sich dann schließlich, sich nicht zu äußern. Man dürfe nicht vergessen, wer der "wahre Feind" sei. Er vermittelt damit die Botschaft, dass er, anders als Selenskyj, das große Ganze im Blick hat und den tragischen Vorfall nicht für persönliche politische Auseinandersetzungen instrumentalisieren will.
Klitschko muss aber auch in der eigenen Stadt kämpfen. Teile der Bevölkerung nehmen ihn weniger als den vorbildlichen Krisenmanager wahr, als den ihn Macdonald und Dubrovskiy zeigen. Ihrer Ansicht nach unterstützt die Stadt Kiew die Armee zu wenig und gibt zu viel für städtebauliche Maßnahmen aus.
Wäre man Kampfrichter, würde man nach diesem Film Klitschko knapp vor Selenskyj sehen. Das liegt natürlich auch daran, dass das Filmteam Klitschko monatelang begleiten konnte. Aus dem Lager des Präsidenten äußert sich in diesem Dokumentarfilm nur dessen Berater Mychajlo Podoljak, der sagt, der Ex-Boxer sei "süchtig nach dem Nervenkitzel von Erfolg und Misserfolg". Selenskyj selbst antwortete auf Fragen der Filmemacher nicht.
infobox: "Klitschko - Der härteste Kampf", Dokumentation, Buch: Kevin Macdonald, Regie: Kevin Macdonald, Edgar Dubrovskiy, Kamera: Edgar Dubrovskiy, Produktion: Docsville Studios, Sky Studios, Broadview Pictures (WOW/NDR/SWR/Sky, seit 13.9.24, Sky Documentaries, 13.9.24, 20.15-21.55 Uhr, ARD-Mediathek ab 18.10.24)
Zuerst veröffentlicht 20.09.2024 14:32
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSky, Dokumentation, Macdonald, Dubrovskiy, Klitschko, Martens
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