24.09.2024 08:14
epd Lange, eher sperrige Dokumentarfilme, die nicht in mehreren Folgen für die Mediatheken aufbereitet werden, gibt es auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr häufig zu sehen. Was läuft, soll meist leicht zugänglich sein und "universell", also etwas erzählen, das sich unabhängig vom Schauplatz überall gut verstehen lässt. "Schattenkind", für das Kino produziert und bei den Hofer Filmtagen 2022 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, ist das nicht. Der 90-Minüter ist deutlich im Sendegebiet des SWR verankert, das zeigt schon die schwäbische Sprachfärbung des Fotografen Andreas Reiner, um den es geht. Reiner spricht viel mit denen, die er fotografiert, und er spricht auch sonst viel im Film des Regisseurs Jo Müller.
Es geht visuell vielversprechend los: Nackte Menschen stehen auf einem entwaldeten Gipfel und werden von Reiner für Fotoaufnahmen dirigiert. Dazu erklingt Pianomusik. Der Flügel, auf dem die Musik gespielt wird, ist nur kurz zu sehen, er steht ebenfalls auf dem Gipfel. Die Musik wird also im On gespielt. Es handelt sich um ein Fotoprojekt namens "Muse".
Aufgeblätterte, oft schwarz-weiße Fotos zeigen Beispiele weiterer Fotoserien. "Erster katholischer Brustwarzenkalender" heißt ein Projekt, andere "Afghanistan" und "Covid". Reiner fotografiert vor allem "schwache und beeinträchtigte Menschen", wie er selbst sagt, die nicht oft im Blickpunkt stehen.
Eingeblendete Textinserts - eher für die Leinwand als für kleine Bildschirme gestaltet - und quadratische Polaroid-Fotos aus Reiners Kindheit führen in die schwierige Biografie des Fotografen ein. Sein Vater starb, als Reiner 15 Jahre alt war, seine Mutter beging an einem seiner Geburtstage Suizid. Er selbst verbrachte von 2001 bis 2003 auf eigene Initiative einige Zeit in der Psychiatrie. Die Göppinger Klinik Christophsbad sucht er für den Film wieder auf.
Zu sehen sind Reiners Inszenierungen. Er fotografiert Tote, die mit gemalten Kinderbildern oder mit Fußballfan-Utensilien bedeckt sind. Ein Mann im Anzug soll eine Banane wie eine Pistole halten, "wie James Bond in Russland" ruft Reiner dem Fotografierten zu. Besonders rührt an, wenn er mit Müttern spricht, die Totgeburten erlitten haben, und sie dabei fotografiert.
Natürlich erfordert die Inszenierung größerer Menschengruppen, etwa beim eingangs gezeigten "Muse"-Projekt oder bei der Fotoreihe "Mofahelden", die Mofa-Fahrer in Superhelden-Kostümierung in der Landschaft und vor einem Dampflok-Zug zeigt, viele Worte und Gesten. Das verdient Interesse, doch man fragt sich auch, ob es nicht zur Kunstform Fotografie gehört, dass Fotografen ihre oftmals akribische, ausgiebige Inszenierung in unbewegten und nicht tönenden, aber für sich sprechenden Fotos verdichten.
Die Klaviermusik, die am Anfang im On zu hören war, wird später immer wieder unter den Film gelegt und es entsteht der Eindruck, dass Reiners Fotos, die oft und zu Recht als"rau" bezeichnet werden, dadurch weichgezeichnet werden sollen.
Es gehört zu den Risiken sperriger Dokumentarfilme, dass sich nicht jeder auf sie einlassen kann und will. Der Film "Schattenkind" funktioniert in dunklen Kinosälen zweifellos besser als auf Bildschirmen, doch es lohnt sich, sich auf ihn einzulassen. Und selbstverständlich gehört es zu den Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, solche Filme zu produzieren, die auf global ausgerichteten Plattformen oder bei auf ein großes Publikum zielenden Sendern nicht gezeigt würden. Daher ist es gut und richtig, dass der SWR diesen Film in seinem Dritten Programm gezeigt hat und ihn über die ARD-Mediathek einem größeren Publikum zugänglich macht.
infobox: "Schattenkind", Dokumentation, Regie und Buch: Jo Müller, Kamera: Dirk Schwarz u.a., Produktion: Teamwerk (SWR, 12.9.24, 23.35-1.05 Uhr und bis 11.12.24 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 24.09.2024 10:14 Letzte Änderung: 24.09.2024 10:15
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSWR, Dokumentation, Müller, Reiner, Bartels, NEU
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