Performance statt Relevanz - epd medien

01.10.2024 07:25

Das Medium, in dem sich Politiker äußern, beeinflusst ihre Art zu sprechen. In Talkshows und noch mehr auf den digitalen Plattformen reüssieren sie vor allem mit kurzen, einfachen Sätzen. Doch die kurzen Botschaften bergen eine große Gefahr, meint der Publizist Norbert Schneider: Komplexe Geschehnisse und Prozesse werden unzulässig vereinfacht und auf ein Richtig oder Falsch reduziert.

Digitale Eigenarten der politischen Rhetorik

In Talkshows wie "Caren Miosga" glänzen Politiker, die in der Lage sind, ein Problem mit zwei Sätzen zu benennen und mit einem Satz zu lösen.

epd Der Deutsche Bundestag nahm vor 75 Jahren im September 1949 seine Arbeit auf. Bis in die 1970er Jahre spielten für seine wesentliche Tätigkeit, die Gesetzgebung, große Reden eine große Rolle. Politiker wie Kurt Georg Kiesinger ("König Silberzunge") oder Helmut Schmidt ("Schmidt Schnauze") haben nicht nur mit dem, was sie zu sagen hatten, sondern auch, wie sie es sagten, Politik gemacht.

Doch die Bedeutung der Parlamentsrede für die politische Willensbildung nahm im selben Maß ab, in dem das Fernsehen sich nicht zuletzt durch die stark wachsende Zahl der Zuschauer in den 1960er Jahren zum Leitmedium entwickelt hat. Es wurde zu einem neuen Ort für die politische Willensbildung, zur Plattform "für eine sekundäre Oralität", wie die Medienwissenschaft es beschrieb. Zwar vollzieht bis heute der Bundestag die politischen Entscheidungen. Aber sie fallen nicht mehr am Ende von "großen Erzählungen". Es fehlt im Parlament nicht nur an präsenten Abgeordneten. Es fehlen auch die großen Erzähler.

Polemische Geplänkel

Pathos im Stil und leidenschaftliche Gefühle in der Stimme, wie man sie etwa bei Karl Theodor von und zu Guttenberg oder Thomas Dehler erleben konnte, aber auch die kalte Schärfe von Helmut Schmidt würden heute übertrieben wirken, nicht überzeugend, sondern aus der Zeit gefallen.

Mittlerweile reichen ein paar Minuten für ein Instant-Narrativ. Höhepunkte an Parlamentsrhetorik sind die zeitlich beschränkten, meist polemischen Geplänkel mit Vorwürfen an den politischen Gegner aus dem Stehsatz: zu viel, zu spät, zu früh, zu schnell. Die lange Rede wurde abgelöst von kurzen Statements, durch angedeutete, karge Erklärungen, durch Verlautbarungen. Offenbar fehlt sowohl das Bedürfnis als auch die Zeit für den Auftritt der emotionalen Überzeuger.

Die neuen, was die Reichweite angeht, höchst attraktiven Orte, weniger das (regionale) Radio, mehr das (bundesweite) Fernsehen, bieten sich seit Jahrzehnten in vielerlei Formaten rund um die Uhr als Foren für Politiker an. In wenigen Radiosendern gibt es noch Magazinsendungen morgens, mittags und abends, im Fernsehen die "Tagesschau", "Heute", "RTL Aktuell" sowie Dokumentationen.

Begünstigt sind Personen, die auftrittsfest sind, die sich vor keiner Kamera fürchten und in der Lage sind, ein Problem mit zwei Sätzen zu benennen.

An hohen Feiertagen und in kritischen Momenten sprechen Präsident und Kanzlerin direkt zum Volk. Nach Parteitagen gab und gibt es Sondersendungen, vor Wahlen Wahlwerbung. Die News-Show nach US-amerikanischem Vorbild kam auch in Deutschland in Mode, mit O-Tönen aus Politikermund, mit Interviews, mit Kommentaren. Und dann gibt es noch die zahlreichen Auftritte der überwiegend gleichen Politiker in den Talkshows.

Diese mediale Präsenz war und ist in der Regel an bestimmte Techniken und Zeiten gebunden. Vor allem ist sie im Umfang begrenzt. Begünstigt sind nicht etwa große Redner, sondern Personen, die auftrittsfest sind, die sich vor keiner Kamera fürchten und die in der Lage sind, ein Problem mit zwei Sätzen zu benennen und mit einem Satz zu lösen. Nicht jeder Satz schafft dafür noch Subjekt, Prädikat und Objekt. Verknappte, oft atemlos eingebrachte Voten werden in den Zeitungen am nächsten Morgen in Kurzkritiken weiter komprimiert.

Doch es gibt einen fundamentalen Unterschied zur Rolle des Parlaments, der seine Ursache im Unterschied von Rede und Print hat. Der Redner kann (in Grenzen natürlich) sagen, was er will, doch was publiziert wird, wird nicht mehr allein von den Autoren bestimmt, sondern von Redakteuren, von Korrespondenten, von Moderatoren - und in Zweifelsfällen von Intendanten. Die Politik ist nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Rundfunkfreiheit.

Neue, mächtige Wettbewerber

Den damit verbundenen Machtverlust wollten die Politiker jedoch nicht hinnehmen. Sie bemühten sich daher, über das Personal der Rundfunkanstalten ihre Interessen durchzusetzen. Der Weg dazu führte über die Aufsichtsgremien, zu deren Aufgaben auch die Wahl des Spitzenpersonals gehörte. Dass dies die gebotene Staatsferne des Rundfunks erheblich touchiert hat, nahmen die Parteien in Kauf. Das Bundesverfassungsgericht hat nur ein einziges Mal eingegriffen, freilich ex post, nachdem Roland Koch eine Verlängerung des Vertrags von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender verhindert hatte.

Inzwischen wirken die analogen Angebote der Massenmedien für die verkürzte Rede nur wie ein Präludium. Schier grenzenlos ausgeweitet hat sich das Feld für politische Botschaften durch die Digitalisierung der Kommunikation. Für die linearen Medien betraten neue, mächtige Wettbewerber das Spielfeld, die Plattformen. Für den einzelnen Nutzer sind bequem nutzbare Angebote an neuen Orten entstanden.

Möglichst nur zwei Optionen

Zur Macht der digitalen Medienmogule, speziell der Plattformbetreiber, gehört, wie schon für die TV-Veranstalter, aber nun universal und unkontrolliert, dass sie durch ihre Geräte, Programme und Algorithmen eine allgemein benutzte "Systemsprache" geschaffen haben. Unter den ungeschriebenen Geboten, die für alle Nutzer gelten, war und ist das Wichtigste ein Imperativ, den die Post schon ausgegeben hat, als es noch Telefonzellen gab: Fasse Dich kurz!

Kürze war zunächst geboten wegen der Masse an Botschaften. Während der Tag noch immer nur 24 Stunden hat, bräuchte man für alle Botschaften ein Vielfaches dieser Zeit. Denn das Ziel von Anbietern, die ihre Botschaften in Werbung einbetten, war und ist es, immer mehr Nutzer auf ihre Inhalte aufmerksam zu machen. Die alte Bekannte Quote heißt jetzt Klick. Klicks erreicht man unter den neuen Bedingungen nicht durch rhetorischen Glanz, nicht mit originellen Metaphern oder gar mit raffinierten Reden. Wer sich im Netz zur Sprache bringen will, hat die besten Chancen, wenn er sich kurz fasst. Wenn er vereinfacht. Wenn er zuspitzt. Wenn er übertreibt. Wenn er möglichst nur zwei Optionen zur Wahl stellt.

Jede Art von Komplexität wird auf das Nötigste, auf ein Entweder/Oder zugespitzt.

Wenn sich in der analogen Kommunikation der Inhalt noch die adäquate Sprache gesucht hat, so sucht sich in der digitalisierten Kommunikation mehr und mehr die knappe Sprache - im Zweifel der schrille, hässliche Ton - ihre Inhalte. Ein Online-Tagebuch wie X bewacht die Zugänge und definiert, was Meinungsfreiheit ist. Es lässt zu und sperrt aus. Es formatiert den Austausch von Meinungen, ihre Länge, die Temperatur und das Tempo. Vergleichbare Kurzmitteilungen dominieren alle sozialen Netzwerke. Im Idealfall ist jede Zeile eine Schlagzeile. Performance geht vor Relevanz.

Ein Nebeneffekt dieser digital ausgebildeten Kurzsprache ist, dass sie mittlerweile auch den analogen Diskurs bestimmt, den Streit über Verletzungen der Menschenrechte, über Klimaschutz, über Philosemitismus und Antisemitismus, über ein Ende von Kriegen, über diverse Lebensentwürfe. Jede Art von Komplexität wird auf das Nötigste, auf ein Entweder/Oder zugespitzt.

Kurze Rede, wenig Sinn

Die digitale Kurz-Sprache kümmert sich kaum mehr um die Falten in der Wirklichkeit und um ihre Farben. Dazu reicht weder der Platz noch die Zeit. Doch mit den Falten und Farben, mit dem Nebensatz, mit dem umständlichen Wenn und Aber verschwindet nach und nach auch alles Abwägende, Zögerliche, Langsame. Langes Reden setzt sich dem Verdacht aus, dass da jemand schwurbelt, labert. Kürze dagegen schafft in undeutlichen Situationen klare Verhältnisse: klare Kante, kurze Rede, wenig Sinn.

Nur ein Meister des Aphorismus wie Stanislav Lec kann sich einen kurzen Satz wie diesen leisten: "Je mehr wir uns der Wahrheit nähern, desto mehr entfernen wir uns von der Wirklichkeit." Das ist kurzer Rede langer Sinn!

Je komplexer die Wirklichkeit ist, desto mehr wird sie durch Kurzsüchtigkeit ihrer Komplexität beraubt.

Ein schier unvermeidlicher Effekt der Kürze ist: Sie produziert leichter Missverständnisse als ein paar Sätze mehr. Katrin Göring-Eckardt hat guten Willens, aber eben auch kurz und missverständlich auf X mitgeteilt: "Diese Mannschaft ist wirklich großartig. Stellt euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler." Für Wolfgang Kubicki war die Sache klar: "Ich finde es wirklich bedenklich, wenn Menschen in Deutschland nach ihrer Hautfarbe bewertet werden." Das ist noch eine noble Reaktion, verglichen mit den Kübeln voll Hohn und Spott, Hetze und Hass. Und am Ende steht ein demütiges Dementi, das nur nötig wurde, weil eine Meinung zu wenig Worte aufgeboten hat: "Habe meinen Tweet gelöscht. Tut mir leid, wie ich formuliert habe." Eigentlich müsste es heißen: Ich bin wieder einmal der Kurzsüchtigkeit erlegen.

Doch während Missverständnisse von Fall zu Fall beseitigt werden können, ist eine andere Schwäche des digitalen Kurzredens chronisch. Nachdem der Inhalt auf Kürze zurückgeschnitten und diese Kürze weiter eingedickt, reduziert wird, verändert sich mit der dann übriggebliebenen Sprache erst das Bild von der Wirklichkeit und am Ende die Wirklichkeit selbst. Je komplexer die Wirklichkeit tatsächlich ist, desto mehr wird sie durch Kurzsüchtigkeit ihrer Komplexität beraubt und damit verändert. Das Konzentrat dieses Prozesses ist am Ende oft eine (ungewollte, aber unvermeidliche) Unwahrheit, die als Wahrheit ausgegeben wird.

Freund-Feind-Logik

Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel fragt in der "Süddeutschen Zeitung", den verbalen Manichäismus im Auge, nach den Folgen: "Begünstigen solche Verkehrsformen in ihrer Rücksichtslosigkeit nicht die Polarisierung der politischen Landschaft in Lager von Freund und Feind?"

Das Muster hinter solchen Sprach-Spielen ist tatsächlich klare Kante: Es gibt nur ein Entweder/Oder. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer machte ebenfalls in der "Süddeutschen Zeitung" deutlich, wohin das führt: "Kompromissbereitschaft wird ersetzt durch Entweder-oder-Konflikte. Das ist eine Freund-Feind-Logik aus der Denkschule von Carl Schmitt, und mit dem Feind sucht man keine Verständigung. (...) Diese Konfliktlogik des Entweder-Oder ist stark gewaltanfällig und arbeitet auf Dauer an der Zerstörung der Grundlagen der Demokratie."

Die Voraussetzung der Zerstörung ist ein alles umfassendes Entweder, das nicht einmal ein Oder zulässt. Es wird wie Antithese und Synthese nicht mehr gebraucht. Doch für die Simplifikateure ist dieser Verlust ein Gewinn: Ein Mittel gegen eine schwer erträgliche Diversität, gegen eine allgemeine Unsicherheit, gegen Unklarheit und Problemfülle, gegen Krisen, deren Urheber im Dunkeln bleiben.

Rhetorik der Schnappatmung

In der Kürze der Sprache, wie sie in der digitalen Kommunikation vorherrscht - beim Konsumenten, beim Wähler, bei Minderheiten, bei Followern - liegt (anders als beim Aphorismus oder dem Epigramm) keinerlei Würze, sondern eine reale Gefahr. Diese Rhetorik der Schnappatmung begünstigt autoritäre Politiker, die genau wissen, was für sie richtig oder falsch ist.

Das verkürzte Reden erinnert an die plakative Produktwerbung. Auch für sie entzieht man der Sprache Länge und Überfluss und ersetzt sie durch markige Worte, Wortschöpfungen, spitze Parolen, knappe, oft witzige Slogans. So kommt es zur sportlich selbstbewussten Präsenz eines SUV, zur beerenstarken Marmelade. Für Hans Hütt ist die FDP-Werbung für die Europawahl ("Europa. Einfach. Machen") eindeutig: "So funktioniert Werbung. Sie macht Kompliziertes einfach und prima", schrieb er in der "Süddeutschen Zeitung". Und warum sollte so nicht auch Politik funktionieren?

Doch Verzerrungen durch die Werbesprache sind vergleichsweise harmlos. Der Konsument ist längst Experte im Entschlüsseln von solchen aprilfrischen Botschaften. Er weiß, dass er kaufen soll. Eine Produktwerbung nach der Devise Keep it simple behält jedoch die Realität genau im Auge. Denn erstens ändert sich durch die Sprache nichts am Produkt. Zweitens weiß der Kunde, dass das Ziel der Werbung nicht sein Wohlergehen ist, sondern sein Geld. Und drittens kann er im Fall von Unklarheiten die Ware ja immer noch anfassen. Denn es gibt sie. Sie existiert.

Rückkehr des Religiösen

Davon kann in den Kurzbotschaften der politischen Netz-Rhetorik keine Rede sein. Nichts ist nachprüfbar. Man käme damit auch viel zu spät. Denn längst hat die noch neuere Neuigkeit - der korrekte Name ist Breaking News - die Aufmerksamkeit der Netznomaden gekapert. Es gibt kein Augenzwinkern wie beim Ahnherrn der Produktwerbung, dem Marktschreier. Man kann nichts anfassen.

Die Realität, von der die politische Rhetorik spricht, ist nicht die Realität von Waren. Sie ist nicht zum Anfassen, sie ist unfassbar. Man muss an sie glauben. Dieser Glaube braucht keine Beweise, nur Vertrauen. Er lebt vom permanenten Bekennen. Es ist kein Zufall, dass im politischen Alltag seit einiger Zeit für schier jede Position durch ungeweihte Oberpriester Bekenntnisse gefordert werden. Man übertreibt nicht mit der Vermutung, dass sich hier eine Rückkehr des Religiösen andeutet.

Am einfachsten gelingt das Verkürzen durch Vereinfachung. Sie wirkt wie ein Sedativum gegen eine schwer erträgliche Diversität, gegen eine allgemeine Unsicherheit, gegen Unklarheit, gegen Krisen. Es gibt dann nur noch den Schuldenmacher oder den Schuldenbremser. Tertius non datur. Vogel friss oder stirb! Aber versuche nicht, auch noch zu singen!

Verkürzung und Übertreibung

Politiker bedienen sich in der Absicht zu überzeugen der einfachen Sprache nicht erst im Netz, sondern schon lange in analogen Wahlspots. 1976 ging es um Freiheit und/oder Sozialismus. Für die Linken gab es die Sammelbezeichnung rote Socken. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) greift auf diese Tradition zurück und verdichtet die Freiheit der Meinung auf einen messerscharfen Gegensatz: Maulkorb oder Meinung. Es geht um Abstieg oder Aufbruch. Von Spaltung reden meint, dass eine vielfältige Gesellschaft nur noch zwei Teile kennt, einen richtigen und einen falschen. In Kriegszeiten zerfällt ein Volk schon nach dem ersten Schuss in zwei Lager: Bellizisten oder Pazifisten. Derartige Vereinfachungen sollen den Durchblick erleichtern.

Eine nahe Verwandte der Verkürzung ist die Übertreibung. Auch hier gibt es die harmlose Variante. Man vergrößert alltäglich etwas Wirkliches spontan und phantasievoll (Ein irrer Typ! Ein Wahnsinnsgefühl! Himmlisch süß! Höllisch heiß!). Es gibt Menschen, die das meiste, was ihnen begegnet, unfassbar, super oder sensationell finden, die Qualität ihrer Leberwurst ebenso wie Donald Trump. Wo das Einerlei wächst, wächst zweierlei mit: der Drang, sich bemerkbar zu machen, und die Neigung, dabei zu überziehen.

Für Politiker ist die verkürzende und zuspitzende Übertreibung - übertrieben gesprochen - ein Brandbeschleuniger. Ihre Statements, Versprechungen, Einschätzungen, Ankündigungen, Behauptungen, Kommentare sollen ihnen, am besten kurz und einfach, die Aufmerksamkeit und die Zustimmung der Öffentlichkeit im Allgemeinen und des Wählers im Besonderen verschaffen. Das Rezept heißt Überzeugen durch Übertreibung. Der Drehbuchautor Ernest Lehmann schrieb für Hitchcocks "Der unsichtbare Dritte" einen Dialog, in dem es heißt, das Wort Lüge sei in der Welt der Werbung gestrichen: "Es gibt nur die zweckmäßige Übertreibung."

Alles ist mega

Der eineiige Zwilling von fassungslos heißt unfassbar. Der CSU-Generalsekretär Martin Huber urteilt über ein Statement des Grünen-Politikers Robert Habeck zum Gazakrieg mit dem doppelten Superlativ "unfassbar und beschämend". Ähnlich der CDU-Politiker Johann Wadephul - "völlig unverständlich und inakzeptabel". Wer bietet mehr? Der Erfinder dieser Art von Übertreibung war wohl Helmut Kohl, der schon für marginale Untaten in Politik und Gesellschaft die Floskel "völlig inakzeptabel" eingeführt hat. Hilmar Klute nennt Einlassungen dieser Art "Erregungsverirrung".

Auf dem Weg zum Kohl'schen Superlativ, gepflastert mit übertriebenen Behauptungen wie Berlin sei eine "failed city" und die Schulen seien voll von "kleinen Paschas", begegnet man im politischen Jargon auch ganz gewöhnlichen Steigerungen wie dem einfachen oder doppelten super, das zunächst nicht mehr war als ein stärkendes Präfix. So erging es auch dem mega. Nachdem lange nur Gräzisten damit etwas anfangen konnten, reicht mega nun als vollständige Beschreibung.

In der politischen Rhetorik hat sich das Wort "Vollklatsche" für Niederlagen der gegnerischen Parteien durchgesetzt. So sagte Jens Spahn nach der Europa-Wahl, das Ergebnis sei eine "Vollklatsche" für den Bundeskanzler. Dagegen wirkt dessen "Doppelwumms" geradezu bescheiden. Also folgt ein dreifach eingesprungener Superlativ: sehr, sehr, sehr gut. Nein, mehr geht wirklich nicht.

Keine intelligente Polemik

Der Spitzenreiter aller Superlative ist alternativlos. Margaret Thatcher hat ihn in den 80ern in die politische Rhetorik eingeführt. 2010 wurde alternativlos das Wort des Jahres. 2015 hat es Angela Merkel noch einmal gebraucht, um ihre Handlungsweise gegenüber Migranten und ihrem Innenminister zu begründen. Ein Kompromiss war danach chancenlos. In der Migrationspolitik ist die Alternativlosigkeit seither konkurrenzlos in einer in Vorurteile eingezwängten Politik, in der man unter Missachtung von Fakten aus einer belegbaren Ausnahme einen unbewiesenen Regelfall macht: Jeder Afghane ein Messerstecher! Das ist mehr als nur ein bisschen übertrieben.

Einen speziellen Sitz im Leben für Übertreibungen bietet seit Homer, dessen größte Helden auch immer große Redner waren, die Polemik. Aber es ist nicht einfach, intelligent zu polemisieren wie einst Herbert Wehner, der den CDU-Politiker Jürgen Wohlrabe mit dem Wort Übelkrähe anbellte. So bleibt Olaf Scholz für Friedrich Merz nur "der schlechteste Kanzler, den dieses Land je hatte". Oder meinte er damit womöglich die ganze deutsche Geschichte?

Zur Geschichte der digitalen Kurzmitteilung gehört auch ein Blick auf das Schicksal des Journalismus in der digitalen Welt. Um es verkürzt und vereinfacht zu sagen: Journalisten haben sowohl die sprachlichen Äußerungsformen der Politik beeinflusst, als auch in beträchtlichem Maß die Politikersprache übernommen. Was hier Ursache und was Wirkung ist, ist bei der inzwischen erreichten Ähnlichkeit nicht mehr genau zu ermitteln. Jedenfalls sind alle drei, Verkürzung, Vereinfachung und Übertreibung, auch im Journalismus weit verbreitet.

Alles wird zum "Skandal"

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass auch Journalisten zwar nicht Wahlen gewinnen müssen, aber die Auflage und die Quote hochhalten müssen. Das lässt sie genau zu denselben sprachlichen Mitteln greifen, die auch Politiker benutzen. So kann man ohne Kenntnis der näheren Umstände nicht sicher sein, ob es die Opposition war oder ein Kommentator, der nach dem Verwaltungsgerichtsurteil zum "Compact"-Verbot sagte, Nancy Faeser habe vom Bundesverwaltungsgericht eine "schallende Ohrfeige" bekommen.

Das Verb abstrafen, mit dem die Wahlniederlage einer Partei beschrieben wird, wenn das Wort von der krachenden Niederlage schon verbraucht ist, kann ein Politiker am Wahlabend benutzt haben oder der Journalist, der ihn um seine Bewertung gebeten hat. Eine Formulierung wie "Scholz dreht der Ukraine den Geldhahn zu", übrigens ein von der Verkürzung schwer getroffener Satz, könnte vom Interviewer oder vom Interviewten gekommen sein.

Auch Journalisten neigen zu der Unart, kleine Unregelmäßigkeiten, jeden Fehltritt, jedes Rumpeln im Getriebe sprachlich zum "Skandal" aufzublasen. Ist ein Ablauf, eine Ordnung nur ein wenig gestört, ist alsbald von Chaos die Rede und es gibt immer mehr Katastrophen. Und was ist schon eine Meinungsverschiedenheit gegen einen Streit, womöglich gegen einen Dauerstreit oder noch besser gegen den Krach zwischen Habeck und Lindner?

Radikalisierung der Sprache

Die Fortsetzung der politischen Willensbildung im Kontext der digitalen Kommunikation wird von vielen Nutzern von Medien auch heute noch als eine Befreiung von analogen Zwängen empfunden. Denn für die Tätigkeit mit und an diesen Orten gibt es, anders als im Parlament oder im Fernsehen, kaum Regeln und noch weniger Regulierung. Dass es solche in den analogen Medien gibt, haben viele als eine Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit kritisiert.

Die Kehrseite dieses Fortschritts wird dabei leicht übersehen. Sie besteht in der hier beschriebenen sprachlichen Verarmung, die den Blick auf die Wirklichkeit verzerrt, die den politischen Vereinfachern die Hasen in die Küche treibt.

Um diese Reduktion von Wirklichkeit ihrerseits zu reduzieren, reichen gut gemeinte Appelle nicht aus. Die Nutzergewohnheiten wird man auf diese Weise kaum verändern. Doch man könnte wenigstens kontinuierlich auf die Risiken hinweisen, die für jede Demokratie entstehen, wenn sie sich nahezu unbemerkt sprachlich radikalisiert.

Unregulierte Macht der Anbieter

Jede politische Radikalisierung beginnt mit einer Radikalisierung der Sprache. Die Bedeutung der Sprache für eine demokratische Gesellschaft könnte aus diesem Grund sogar ein überwölbendes Schulfach werden. Und die Politiker könnten sich daran erinnern, worauf sie verzichtet haben, seit sie die Macht der politischen Rede ungenutzt liegen ließen. Eine Macht, deren Wirkung man immer noch im alltäglichen Politikbetrieb der USA beobachten kann.

Doch das eigentliche Problem bleibt die unregulierte Macht der Anbieter, das hat Robert W. McChesney schon 1995 in seinem Buch "Rich Media, poor Democracy" prophezeit. Die Verbindung einer gigantischen Kapitalmacht mit einer unvorstellbaren Medienmacht übertrifft alles, was man sich bisher unter Medienkonzentration und ihren Folgen vorstellen konnte. Sie erzeugt nach Shoshana Zuboff einen "Überwachungskapitalismus".

Die Tycoons des Silicon Valley üben sowohl mit ihrem Kapital als auch mit ihren Medien einen einzigartigen, gesellschaftlich legitimationsfreien, womöglich nicht einmal mehr durch sie selbst kontrollierten Einfluss auf die Weltpolitik aus. Sie sind beides, Bock und Gärtner. Wenn nicht bald reguliert wird, wird Regieren irgendwann nicht mehr möglich sein. Daher müssen als erste die Regierenden handeln. Aber wer von ihnen fühlt sich stark genug, den riesigen Konzernen endlich Grenzen zu setzen?

Norbert Schneider Copyright: Uwe Völkner / FOX Darstellung: Autorenbox Text: Norbert Schneider ist Publizist und war von 1993 bis 2010 Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen.



Zuerst veröffentlicht 01.10.2024 09:25 Letzte Änderung: 01.10.2024 16:36

Norbert Schneider

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Internet, Kommunikation, Rhetorik, Schneider, NEU

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