Schmerz der Depression - epd medien

02.10.2024 09:16

RTL+ erzählt die Geschichte des Kaufhauserpressers "Dagobert" in sechs Folgen als eine tragikomische Mischung aus Fakten und Fiktion. Ganz nebenbei geht es auch um das Drama eines hochbegabten Kindes und seine Depression.

Arno Funke (Friedrich Mücke) platziert einen präparierten Koffer

epd 30 Jahre ist es her, dass die Polizei endlich einen Erfolg vermelden konnte: "Dagobert" alias Arno Funke, der Kaufhauserpresser, der sechs Jahre lang Heerscharen von Beamten an der Nase herumgeführt hatte, wurde im Frühjahr 1994 gefasst. Es war die längste und wohl auch aufwendigste Erpressungsserie der deutschen Kriminalgeschichte, während der "Dagobert" zu so etwas wie einem Liebling insbesondere der Boulevardmedien avancierte: Zwar war er alles andere als ein moderner Robin Hood, denn er beabsichtigte keineswegs, das Geld großzügig zu verteilen. Doch wegen seiner enormen Findigkeit, seiner technischen Fähigkeiten und wegen seines Bestrebens, Personenschaden zu vermeiden, genoss er auch in der Öffentlichkeit durchaus große Sympathien.

Kurzum: ein Stoff, der geradezu nach einer Verfilmung ruft. Die erste folgte bereits kurz nach Dagoberts Festnahme: Roland Suso Richter drehte vor 30 Jahren für Sat.1 den Film "Das Phantom - Die Jagd nach Dagobert". 2022 produzierte der RBB die mehrteilige Doku-Serie "Jagd auf Dagobert".

Arno Funkes Geschichte ist also durchaus bekannt: nicht nur durch mediale Rezeption, sondern auch durch seine eigenen Publikationen und öffentlichen Auftritte. RTL hat nun, 30 Jahre danach, eine sechsteilige Serie daraus gemacht: "Ich bin Dagobert" erzählt die Geschichte als eine tragikomische Mischung aus Fakten und Fiktion - überwiegend aus Funkes Perspektive, aber auch die der Ermittler kommt nicht zu kurz.

Ewiger Malocher-Kreislauf

Friedrich Mücke spielt Arno Funke, die Geschichte setzt 1988 ein, als der künstlerisch begabte Funke in einer kleinen Westberliner Schrauberwerkstatt seines Kumpels Peter schwere Bikes mit Airbrush-Malerei aufmöbelt. Er steckt im ewigen Malocher-Kreislauf und leidet unter Depressionen, die er mit viel Alkohol betäubt, denn "über Depression zu reden war damals so unüblich wie im Sitzen zu pinkeln". Die damals sehr giftigen Lackdämpfe benebeln sein Hirn zusätzlich und schädigen sein Kurzzeitgedächtnis. Umso stärker wird für Funke seine Kindheit präsent - in Rückblenden sieht man ihn als etwa neunjährigen, begabten und ziemlich einsamen Jungen - und sein Vater (Martin Feifel), der ihm in Visionen sogar im TV erscheint und der ihn anstachelt, ein Ding zu drehen.

Allerdings beschließt Funke jr., "sich an jemandem zu vergreifen, der nicht wehrlos ist - ein Konzern". Nachdem ein erster Sprengsatz im Edelkaufhaus DaDeKa (unschwer als KaDeWe identifizierbar) hochgeht, wird die Polizei in Gestalt des Kriminalhauptkommissars Strack (Misel Matisevic) eingeschaltet, der darin erst einmal "reine Routine" sieht, den Erpresser aber nicht fassen kann, obwohl er ihm zeitweise sehr nah kommt. Letztlich wird dies die einzige gelungene Erpressung Funkes bleiben, bei der er 500.000 DM erbeutet. Allerdings muss Funke ernüchtert feststellen, dass der Geldsegen seine Depression nicht verschwinden lässt: "Depression ist Depression. Nur halt mit'm Haufen Geld drüber."

Regisseur Hannu Salonen erzählt diese Geschichte zwar chronologisch, aber durchwirkt mit Rückblenden und Vorgriffen: Mal springt sie in Funkes Kindheit in den 50er Jahren, mal in seine Haftzeit ab 1995, als ihn eine Psychologin interviewt. Überaus gelungen ist die glaubwürdige Schilderung der Atmosphäre der 80er und frühen 90er Jahre, zu der auch Szenenbild (Julian Augustin) und Kostüm (Anke Winckler) entscheidend beitragen: von den Holzbänken der Berliner S-Bahn über die unterschiedlichen Telefonzellen in Ost und West, Pilotenbrillen, Jeans- und Lederjacken, Miniplis und Schnauzbärte bis hin zu zeitgenössischen Graffiti und der verqualmten Schrauberwerkstatt mitten im Westberliner Milieu der Durchwurschtler.

Knochenmann mit Entenschnabel

Auch optisch lassen sich Regie und Bildgestaltung (Kamera: Felix Cramer) einiges einfallen: eingefrorene Bilder, visuelle Effekte wie etwa die grafische Verdeutlichung der technischen Einfälle Funkes, ungewöhnliche Einstellungen und Perspektiven. Selbst Horror-Elemente werden eingesetzt: Irgendwann taucht in Funkes einsamen Tüftelstunden ein unheimliches Wesen an seiner Seite auf, eine Art Knochenmann mit Entenschnabel und rot glühenden Augen, der teils Funkes eigenes Alter Ego ist, teils sein imaginierter Vater und mit ihm kommuniziert.

Mit seinem Geheimnis beginnt Funke eine bürgerliche Existenz: Bei einem Urlaub mit seinen Kumpels in Spanien trifft er seine große Liebe, Anais (Carol Rovira), sie heiraten, bekommen ein Kind, Anais ahnt nichts von Funkes Geheimnis, glaubt ihm, dass er ein Vertreter im Außendienst sei. Doch allmählich geht das Geld aus der ersten Erpressung zur Neige, Funke erpresst nun unter dem Namen "Onkel Dagobert" eine große Handelskette und tüftelt immer neue clevere Pläne zur Geldübergabe aus.

Jetzt rückt auch die Polizeiarbeit stärker in den Fokus: Eine vielköpfige "Soko Dagobert" wird gegründet, zu der nicht nur KHK Strack und sein junger Berliner Kollege Inan Çoban (Doguhan Kabadayi) gehören, sondern auch der Ermittler Joe Kaidel (Moritz Führmann), die Psychologen Sonja Balas (Sonja Gerhardt) und Lars Maibach (Ronald Kukulies). Anders als damals die Boulevardpresse denunziert aber Salonen die Ermittler nicht als "Deppen der Nation" und tollpatschige "Entenjäger". Vielmehr wird hier auch dank eines überzeugenden Schauspielensembles ein differenziertes Bild gezeichnet: Man sieht die Zermürbung, die aufwendigen Einsätze, den Streit um die richtige Taktik, die Dynamiken innerhalb des Teams, auch die Verzweiflung, Joes Ehe zerbricht daran.

Erlöst von der ewigen Lüge

Zwischen 1992 und 1994 gehen sechs Sprengsätze in Kaufhäusern hoch und verursachen immense Sachschäden, mehrere Geldübergabeversuche scheitern. Am Ende, als die Ermittler ihn endlich in einer Telefonzelle stellen können, scheint Funkes Erleichterung fast ebenso groß wie die der Ermittler: Immerhin ist er erlöst von der ewigen Lüge.

Ganz nebenbei erzählt die Serie auch vom Drama eines hochbegabten Kindes und dem Schmerz der Depression - und gerade in dieser Beiläufigkeit erhält diese Erzählung Gewicht. Abgesehen von einigen Längen hält die Serie die Spannung dank der facetten- und einfallsreichen Erzählweise und einem bis in die Nebenrollen gut besetzten, überzeugenden Ensemble bis zum Schluss. Eine rundum gelungene Produktion - und welcher Titelsong könnte hier passender sein als dieser von Santa Esemeralda: "Don't let me be misunderstood".

infobox: "Ich bin Dagobert", sechsteilige True-Crime-Serie, Regie: Hannu Salonen, Buch: Ronny Schalk, Kamera: Felix Kramer, Produktion: Zeitsprung Pictures (RTL+, seit 2.10.24)



Zuerst veröffentlicht 02.10.2024 11:16 Letzte Änderung: 02.10.2024 11:36

Ulrike Steglich

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Steglich, Serie, KRTL+, NEU

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