03.10.2024 10:00
epd Als die Zeiten wild, aber noch nicht ganz so kurzlebig waren wie heute, in den wieder schwer angesagten 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, konnten Figuren wie die Geschwister von Mendelssohn noch mit so etwas wie Nachruhm rechnen. Schließlich stammten sie aus dem Berliner Großbürgertum, waren von klein auf umgeben von Kunst, Musik und Literatur und standen mal finanziell fördernd, mal amourös in enger Verbindung zu den künstlerischen und geistigen Größen der Zeit.
Ihre Biografien erzählt das Duo Tauchgold in einem fiktiven autobiografischen Gespräch post mortem, einem "Narratorium", wie Heike Tauch und Florian Goldberg es spielerisch nennen. Schon diese Wortschöpfung gibt den Ton vor: ein zwischen Sanatorium, Oratorium und Narration tänzelndes, säkular-religiös-akademisches Mischwort, in dem Dramatisierungen und Skandalisierungen wie Eiswürfel im bunten Cocktailglas einfach wegschmelzen und etwas Schönes, Funkelndes hinterlassen.
Also fragen sich Eleonora und Francesco Jahrzehnte nach ihrem Ableben aus dem Jenseits im Jahr 2024, warum sie heute eigentlich niemand mehr kennt: "Das war doch ganz anders gedacht", sinnieren sie, ohne Entrüstung, eher erstaunt, "wir sollten doch ein Nachleben haben, so wie Klaus und Erika Mann ..." Dieses Nachleben bescheren ihnen nun Heike Tauch und ihr Ehemann und Ko-Autor Florian Goldberg, die sich in ihren gemeinsamen Projekten für Bühne und Hörfunk Tauchgold nennen. Heike Tauch ist im Juli überraschend verstorben, "Nobody’s Nothings" war ihre letzte Arbeit.
Sprachlich wie musikalisch von dichter, spielerischer Leuchtkraft, durchdringen die Kompositionen von Dai Fujikura (am Cello: Wolfgang Emanuel Schmidt) wie Atempausen das innigliche Parlando des heute tatsächlich fast vergessenen Geschwisterpaars von Mendelssohn. So schillernd waren damals die Schauspielerin Eleonora und ihr Bruder Francesco, der Cellist, Regisseur und Übersetzer, dass fast die gesamte Prominenz mit ihnen auf irgendeine Weise verbandelt war: Persönlichkeiten wie Eleonore Duse und Max Reinhardt gingen bei ihnen ein und aus, mit Albert Einstein machten sie Hausmusik.
Schon als Teenager hatten die Nachfahren des berühmten Moses Mendelssohn von ihrer mussolinibegeisterten Mutter - ja, so ein Paradoxon gilt es erst einmal auszuhalten - eine Villa im Grunewald vermacht bekommen, neben dem riesigen Vermögen des Vaters, des früh verstorbenen Bankiers und Kunstsammlers Robert von Mendelssohn. Die Partys der Geschwister waren legendär, vor allem der queere Francesco sorgte mit Nacktauftritten im Pelz oder Spaziergängen im zitronengelben Morgenmantel auf dem Kudamm für Aufsehen. Man trank, man experimentierte. Eleonora wurde nach einer Abtreibung - es soll ein Kind Max Reinhardts gewesen sein - von ihren Ärzten mit Morphium versorgt und war danach von der Droge abhängig.
Als die beiden mit der Machtergreifung der Nazis in die USA auswanderten, ging die Party weiter. Nur mit weniger Geld und mehr Problemen: Der Bruder verfiel immer mehr dem Alkohol, verlor deshalb seine Jobs und wurde von seiner Schwester ein ums andere Mal aus den Schwierigkeiten herausgeboxt. Später sollte er mehrmals in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. Ihre eigene Morphiumsucht und ihren vermutlichen Selbstmord aber beklagt Eleonora im Zwiegespräch mit dem Bruder keineswegs. Sie beschreibt, wie sehr sie die Wirkung der Droge mochte, weil sie sich damit "weniger angreifbar" fühlte.
Diese Nichtangreifbarkeit bei gleichzeitig höchster Sensitivität bestimmt auch den postmortalen Sprechakt: Der Anblick des eigenen toten Körpers, stellt Eleonora wie eine Forscherin nach einer interessanten Entdeckung fest, war für sie eher erstaunlich als schockierend: "So ist das also mit dem Sterben."
Die Besetzung könnte stimmiger nicht sein. Jens Harzer, Träger des Iffland-Rings, spricht seinen Francesco mit solch melancholisch grundierter Noblesse, dass man ihm sogar abnehmen will, dass er seinem späteren "Gemüse"-Zustand, in dem er seine Schwester Jahrzehnte überleben sollte, etwas "Herrliches" abgewinnen konnte: für nichts zuständig zu sein, versorgt zu werden und hin und wieder dieselben Akkorde auf dem Stradivari-Cello spielend, mit wechselnden jungen Musikern, die von seiner Pflegerin für ihren Dienst bezahlt werden. Ob er lobotomiert worden sei, fragt die Schwester einmal. Wer weiß, antwortet er ruhig, er könne das nicht beurteilen.
Francescos glamouröse Schwester spielt Katharina Marie Schubert. Sie stattet ihre Rolle im Kontrast zum reflektierten Luftgeist Francesco mit fragender Intelligenz und amüsierter Bodenständigkeit aus. Konzentriert und manchmal durch weitere unterlegte Stimmen regelrecht konzertierend bis an die Grenze zum Wahnsinn, begeben sich die beiden ins Party-Rauschen von damals oder in Straßenszenerien von heute. So genau ist das manchmal nicht zu sagen. Prüfend schreiten sie durch die Gemäuer ihrer einstigen Villa im Grunewald. Das Parkett gibt nach: Haben Geister noch Gewicht? Diese schon. Blicke aus den Fenstern, Staunen über einst vertraute Bäume, die riesig geworden sind, lange nach dem eigenen Tod.
Tauchgold haben mit ihrem Privates und Politisches umschwirrenden Hörspiel nicht nur ein wichtiges Stück europäischer Emigrationsgeschichte vor dem Vergessen bewahrt, sie vermitteln auf so kluge wie sinnliche Weise auch eine merkwürdige Art von Trost. Etwa, wenn Eleonora den Bruder am Ende fragt, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, "was das ist, wo wir sind" und was sie selbst seien. "Vielleicht eine Art Musik", schlägt er ihr vor, "Gespräche aus Klang, aus dem die Welt besteht". Aber worauf, hakt sie nach, laufe das hinaus? "Auf nichts", lautet Francescos oder vielmehr Tauchgolds Antwort, ohne Trauer oder belehrenden Triumph: "Man unterhält sich halt oder macht Musik, und dann lässt man es wieder bleiben. Das ist alles." Und das ist viel.
infobox: "Nobodys Nothings, ein Narratorium", Hörspiel: Regie und Buch: Tauchgold (Heike Tauch, Florian Goldberg) (Radio3/RBB, 27.9.24, 19.03-20.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 03.10.2024 12:00 Letzte Änderung: 03.10.2024 12:22
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KRBB, Hörspiel, Tauchgold, Tauch, Goldberg, Lutz, NEU
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