04.10.2024 07:34
epd Es war die schrecklichste Nachricht, die der Direktor des renommierten Kiewer Sinfonieorchesters je verschickt hat: "Der Krieg beginnt". Russlands Überfall auf die Ukraine veränderte auch die Lage des Orchesters dramatisch. Eine Tournee nach Westeuropa im April 2022 wurde zum Exil, aus dem die Mitglieder bis heute nicht zurückgekehrt sind. Stattdessen fanden die Symphoniker durch Zufall eine neue Heimat im thüringischen Gera. Die Stadt stellte ihnen Wohn- und Proberäume zur Verfügung, und sie versuchten von dort aus, Konzertsäle in Europa zu bespielen.
Das Radiofeature von Franziska Sophie Dorau erzählt von den schwierigen Bemühungen, das Orchester am Leben zu erhalten, und wird zu einer Auseinandersetzung über die Bedeutung der Kultur in existenziellen Krisen. Russland versuche bereits seit Jahrhunderten, die ukrainische Kultur zu leugnen und zu zerstören, berichtet Intendant Oleksandr Zaitsev. Ein Volk der Hochkultur sei demnach nur das russische. Auch das ist eine Form des Krieges: die Identität und Bedeutung des Gegners für nichtig erklären. Das Orchester wolle die ukrainische Kultur sichtbar machen und der russischen Propaganda etwas entgegensetzen.
Doch obwohl Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Beginn des Kriegs angeordnet hatte, dass ukrainische Kultureinrichtungen im Ausland gastieren sollten, um so einen Kampf an der "kulturellen Front" zu führen, strich Kiew im Mai 2023 die Finanzierung. Begründung: Ein städtisches Orchester müsse auch lokal spielen. Eine Aufgabe, die das Orchester unter den aktuellen Bedingungen gar nicht erfüllen kann.
Daher sind die Orchestermitglieder nun auf Bürgergeld in Deutschland angewiesen. Das Jobcenter aber möchte jedes Mitglied so bald wie möglich in klassische Jobs unterbringen. Das hätte die Auflösung des Orchesters zur Folge und die Musiker würden in der Ukraine den Sonderstatus als kulturelle Botschafter verlieren, der sie von der Wehrpflicht befreit. Für viele Orchestermitglieder entsteht damit auch immer mehr der Gewissenskonflikt, ob es richtig ist, dass sie hier in Deutschland für die Musik kämpfen und nicht an der eigentlichen Front.
Das Feature verdeutlicht die Konflikte ausgewogen und vermittelt gleichzeitig die ukrainische Musikkultur. Dorau verweist auf ukrainische Komponisten wie Mykola Lyssenko, Jewhen Stankowytsch und Alisa Zaika und das gesamte Feature über wird Musik des Orchesters eingespielt. Zudem berichten die Orchestermitglieder von ihrer musikalischen Leidenschaft und davon, wie sie den Beginn des Kriegs erlebt haben. Es sind eindrückliche Erzählungen, welche die Angst, die Wut und die Verzweiflung verdeutlichen, die der Krieg mit sich brachte. Einige verarbeiten die Erlebnisse auch mit der Musik. "Depressive, chaotische Musik ohne Sinn" - so beschreibt eine der Musikerinnen ihre Klänge, die sie eines Nachts komponierte.
Dorau führt mit bedächtiger Stimme durch das Feature. Das Simultandolmetschen von den Berichten der Protagonisten erfolgt ebenfalls ruhig und unaufgeregt. Die Musik wiederum gibt dem Feature eine dramatische Überhöhung, bei der nicht immer ganz klar ist, ob sie nun die Musik des Orchesters verdeutlichen oder das Gesagte atmosphärisch untermalen soll. So zeigt sich die Musik einerseits als passende Anschauung, drängt andererseits aber auch manchmal die Berichte etwas an den Rand.
Die Ablehnung, die den Orchestermitgliedern immer wieder entgegenschlägt, ist darüber hinaus einer der erschreckendsten Aspekte des Features. Jeden Montag gibt es in Gera Proteste, bei denen Rechtsextreme russische Fahnen schwenken. An diesen Tagen verlassen viele der Orchestermitglieder nicht das Haus. Manchmal wird das Orchester auch zum Spielball von Konflikten, an denen es selbst gar nicht beteiligt ist, wie bei einem Konzert, bei dem auch Katrin Göring-Eckardt anwesend ist, die maßgeblich mithalf, dass das Orchester einen Platz in Gera bekam. Weil die Grünen-Politikerin ein Feindbild vieler Bauern ist, wurde das Konzert von deren Protesten gestört, bis Göring-Eckardt den hupenden Landwirten Gespräche über die Agrarpolitik zusicherte. Mit klassischer Musik und der Ukraine hatte das alles nichts mehr zu tun.
Am Ende gibt es für das Orchester aber zumindest ein kleines Happy End. Die Kommune Monheim am Rhein, die anders als Gera über kein eigenes städtisches Orchester verfügt, möchte das Kyiv Symphony Orchestra für drei Jahre als Stadtorchester aufnehmen, mit Arbeitsverträgen für alle Mitglieder. Somit kann der Kampf um die Erhaltung der ukrainischen Kultur zumindest fürs Erste fortgeführt werden.
infobox: "Wir haben Krieg, die Probe fällt aus - Das Kyiv Symphony Orchestra auf der Suche nach einer zweiten Heimat", Radiofeature, Regie und Buch: Franziska Sophie Dorau (RBB Radio 3/ORF, 22.9.24, 14.00-14.55 Uhr und seit 22.9.24 in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 04.10.2024 09:34
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Radio), KRBB, Suhr, Dorau
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