Gewinner der Wende - epd medien

11.10.2024 13:57

Nach dem Abi beginnt das Leben: In ihrer Dokumentation "Abi 89 - Aufbruch im Umbruch" zeichnet Jutta Schön die Lebensläufe von fünf Männern und Frauen nach, die 1989 in Luckenwalde Abitur gemacht haben.

Sieben Erwachsene aus dem Abijahrgang 1989 in Luckenwalde vor ihrer Schule

epd Zum 35. Jahrestag der Maueröffnung stehen die Erfahrungen der Menschen mit dem Umbruch im Fokus vieler Beiträge. Jutta Schön stellt in ihrer 3sat-Dokumentation "Abi 89 - Aufbruch im Umbruch" die Lebenswege einer Handvoll Menschen aus dem brandenburgischen Luckenwalde vor. Mit dem Motiv der Reifeprüfung knüpft sie an einen biografischen Einschnitt an, der bei allen Unterschieden in Ost und West eine ähnliche Rolle spielte. Im Mittelpunkt steht der letzte Abi-Jahrgang der DDR im Sommer 1989, kurz vor den geplanten Feiern zum 40. Jahrestag. Statt großer Paraden gab es erst massenhafte Ausreisen in Richtung Ungarn und CSSR und dann Demonstrationen des Unmuts, die im November zur Öffnung der Grenze führten.

Ausgangspunkt des Films ist ein Ehemaligentreffen in den Räumen des heutigen Friedrich-Gymnasiums der Stadt (der ehemaligen Erweiterten Oberschule "W. I. Lenin"), um das sich an anderen ausgewählten Orten gedrehte Interviews mit Einzelnen gruppieren.

Die Narben des Zusammenwachsens

Nicht alle, die sich hier treffen, legten in Luckenwalde das Abitur ab: Johanna Lindner etwa, deren Eltern aus beruflichen Gründen schon 1983 den Ort verließen, wurde dadurch einer glücklich geerdeten Kindheit entrissen. Später wurde Johanna wie ihre Mutter Ärztin und überquert heute jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit den ehemaligen Grenzstreifen an der Berliner Stadtgrenze. Die Mauer fiel, als sie gerade angefangen hatte zu studieren, das bescherte ihr vor allem mehr Freiheiten bei der Berufswahl.

Britt Rommel, die ihrer "Schulfreundin" damals einen Gruß "zur ewigen Erinnerung" ins Poesiealbum schrieb und in der Schule immer wieder als "Rebellin" aneckte, verließ mit ihrer Mutter im Sommer 89 die DDR Richtung Prag. Dort hoffte sie wie viele andere in der deutschen Botschaft auf Ausreise. Als sich kurz nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat in Bamberg die Grenzen auch für alle anderen öffneten, war ihr das eher eine "schwierige" als eine entlastende Erfahrung, weil es den Umgang mit den Narben des Zusammenwachsens komplizierte.

Marco Klingberg, einer der wenigen mit staatsbürgerlich positiver Beurteilung im aus dem Schularchiv besorgten Zeugnis, begann im Sommer 1989 eine Ausbildung als Offiziers in Dresden. Am 10. Oktober war auch seine Einheit am Dresdner Hauptbahnhof eingesetzt. In den Tagen und Monaten danach begann der junge Mann die Floskeln der Staatsmacht von der drohenden Konterrevolution zu durchschauen - und blieb bis heute bei der Polizei.

Exkurs nach Guernsey

Angelika Fornaçon war eines der wenigen Pfarrerskinder, die mit einer Sondererlaubnis in der DDR studieren durften, sie ist heute Ingenieurin für Brückenbau. Silke Lemke hatte als ausgezeichnete Wettkampfschwimmerin eine Karriere mit allen Vor- und Nachteilen des DDR-Spitzensports, von der privilegierten Versorgung bis zum Doping. Heute lebt sie als Vorstandsassistentin im Südwesten Deutschlands.

Als Bonus gibt es noch einen kurzen Exkurs nach Guernsey, wo der beim Klassentreffen nicht anwesende Alexander Kottenhahn lebt, dessen als Schiffsarzt weit gereister Vater schon Anfang der 1980er die DDR verließ und die Familie nachholte.

Die in der knappen Stunde erzählten Lebensentwürfe sind recht vielfältig, da aber alle Protagonisten höhere Bildungswege durchlaufen haben, ist es sozial ein recht enges Spektrum. Doch während bekannte Selbstverständlichkeiten der politischen Zeitgeschichte noch einmal ausführlich mit Aufnahmen aus den Archiven referiert werden, bleiben die journalistischen Umstände des Filmprojekts selbst und die Kriterien der Auswahl im Dunkeln. Hier stellt sich auch die Frage: Müssen die bekannten Umstände der Maueröffnung wirklich in solch einem Film noch einmal erklärt werden?

Normale Menschen

Zur Vervollständigung wäre es gut gewesen, wenigstens ein paar Details zu den im Film nicht erwähnten Personen zu erfahren - insgesamt sind auf den immer wieder gezeigten alten Klassenfotos 19 Schülerinnen und Schüler zu sehen. Es wäre auch interessant zu wissen, warum von den sieben beim Treffen Anwesenden ausgerechnet diese fünf Geschichten erzählt werden.

Hinzu kommen ein merkwürdig betulicher Kommentar der Fernsehjournalistin Schön ("Die Jugend, ein Sehnsuchtsort, egal wo oder in welchem Land man sie erlebt ..."), viel Anekdotisches und wenig nachvollziehbare ästhetische Entscheidungen wie die, beim Reden über Doping unvermittelt eine Medikamentenschachtel groß einzublenden. So bleibt am Ende die nicht neue Erkenntnis, dass die um die Wende ins Berufsleben gestarteten Jahrgänge vermutlich zu ihren größten Gewinnern gehören. Und es ist erfreulich, im Fernsehen so normale Menschen zu sehen, die nicht auf ein Standard-Schönheitsideal getrimmt sind. Danke dafür!

infobox: "Abi 89 - Aufbruch im Umbruch”, Dokumentation, Regie: Jutta Schön, Kamera: Christoph Lemmen, Anne Misselwitz, Produktion: Megaherz, Just5media (3sat/ZDF, 2.10.24, 20.15-21.15 Uhr und in der 3sat-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 11.10.2024 15:57

Silvia Hallensleben

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), K3sat, Dokumentation, Schön, Hallensleben

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