Die netten Herren von "Horch und Guck" - epd medien

12.10.2024 08:57

"Terra X History" erzählt in "Wir Grenzgänger" die deutsch-deutsche Geschichte aus der Sicht von Menschen, die beide Teile Deutschlands kannten, verlässt sich dabei aber zu sehr auf prominente Zugpferde. Beeindruckender sind die Geschichten der weniger bekannten Grenzgänger.

Roland Schreyer holte seine Familie durch die Rohre eines Bachs in den Westen

epd "75 Jahre Deutschland: Wir Grenzgänger", lautet der etwas irreführende Titel der "Terra X History"-Ausgabe zum 75. Jahrestag der Gründung der DDR im Oktober und der BRD im Mai 1949. Die Dokumentation spult im Schnelldurchlauf durch 40 Jahre deutsch-deutscher Geschichte. Dazu gibt es die üblichen Bilder und Töne, vom Rosinenbomber bis zum berühmten Satz von Günter Schabowski im November 1989: "Nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

Im Mittelpunkt des Films stehen Menschen, die die Grenze in beide Richtungen überwunden haben oder überwinden wollten, ob dauerhaft oder zeitweise. Zu Wort kommen unbekannte Protagonisten, vor allem aber auch Prominente. Einige von ihnen können gleich auch die Tonspur befüllen: Reinhard Mey, Bettina Wegner, Frank Schöbel, Katja Ebstein - Musiker, die auf beiden Seiten der Grenze auftraten. Meys Auftritt fand allerdings erst wenige Tage vor dem Mauerfall statt. Damit sei, sagen die Autoren der Dokumentation, ein lang gehegter Traum des Sängers in Erfüllung gegangen.

Wenig differenziert

Die Konzentration auf die persönlichen Geschichten der Protagonisten, dramaturgisch verwoben mit Schicksalsmomenten der deutsch-deutschen Geschichte, zündet hier allerdings kaum: Der Mauerfall als Parallelmontage zur Frage, ob Mey in Dresden neben "Gute Nacht Freunde" doch noch "Über den Wolken" spielen wird.

Und warum eigentlich tun sich so viele Dokumentationen im deutschen Fernsehen so schwer damit, die DDR in aller Deutlichkeit als den Unrechtsstaat zu benennen, der sie war? Immerhin erliegt "Wir Grenzgänger" nicht der Versuchung, sie lediglich als bananenfreies Kuriositätenkabinett zu porträtieren. Dennoch: Katja Ebstein sagt, die Bevölkerung der DDR sei auf ihre Weise "verbogen worden durch das System, und wir durch den Konsum. Also, was ist denn da besser?" Solche Äußerungen tragen nicht gerade zu einem differenzierten Bild bei.

Nie heimisch geworden

Ebstein erzählt auch, wie "furchtbar nett" die beiden Herren von "Horch und Guck" bei den von der Stasi überwachten Dreharbeiten zu ihrer eigentlich unpolitischen, auch im Ostfernsehen ausgestrahlten Sendung "Katja unterwegs in der DDR" gewesen seien. "War schön", sagt sie - eine Äußerung, die anekdotisch begründet sein mag, angesichts der Perfidie des Überwachungsstaats im Osten jedoch eher zynisch anmutet. Eine Kontextualisierung durch den Film bleibt aus.

Nun kann man von einer solchen Dokumentation nicht erwarten, dass sie die Debatte über die Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, vorantreibt. Etwas weniger Wohlfühl-Sound wäre aber angemessen.

Mit Ausnahme von Bettina Wegner, die nach jahrelanger Opposition zum DDR-Regime 1983 unter großem Druck in den Westen ausreiste, dort aber nie wirklich heimisch wurde, tragen die O-Töne der Prominenten wenig Substanzielles bei.

Gewissensentscheidung

Stärker sind die Geschichten der Nicht-Prominenten: Liane Weinstein wurde als Kleinkind am Tag des Mauerbaus von ihren Eltern getrennt. Ein Versuch, sie durch einen Tunnel vom Osten in den Westen zu bringen, scheiterte. Erst elf Jahre später war die Familie wiedervereint. Roland Schreyer, der Ende der 1980er Jahre nach einem Verwandtenbesuch im Westen blieb, holte seine Familie auf spektakuläre Weise nach, indem er die deutsch-deutsche Grenze in einem verrohrten Bach unterquerte.

Barbara Galonska saß im August 1978 mit ihrem neunjährigen Sohn in einem Lot-Flugzeug, das auf dem Weg von Warschau nach Berlin-Schönefeld von einem "Republikflüchtling" entführt wurde, neues Ziel: Tempelhof. Galonska stellte sich dort die quälende Frage: Im Westen bleiben, oder zurück in den Osten? Wie die Mehrzahl der mitreisenden DDR-Bürger entschied sie sich gegen den Westen. Die Schilderung Galonskas, wie sie diese Gewissensfrage für sich beantwortete, zählt zu den stärksten Momenten des Films.

Popkulturelle Brückenbauer

Gut ist, dass die Dokumentation ohne Reenactments mit Schauspielern auskommt, sie versucht sich stattdessen aber an Animationen im Graphic-Novel-Stil (Rainer Ludwigs). Diese werden allerdings wenig konsistent eingesetzt und bieten kaum Mehrwert, zumal die Bewegungen der Figuren manchmal sehr unbeholfen wirken.

Insgesamt steuert "75 Jahre Deutschland - Wir Grenzgänger" wenig Neues zur Erzählung deutsch-deutscher Geschichte bei. Das Konzept, Menschen in den Vordergrund zu rücken, die die Grenze - auf welche Weise auch immer - überwunden haben, wäre bei weniger Protagonisten vermutlich besser aufgegangen. Auf die prominenten Zugpferde hätte man weitgehend verzichten können. Oder man hätte ihren Geschichten in einem eigenen Film nachgehen können: Musiker als Grenzgänger zwischen Ost und West, im Spannungsfeld zwischen popkulturellem Brückenbauen und von beiden Seiten instrumentalisiertem "Exportgut".

infobox: "75 Jahre Deutschland - Wir Grenzgänger", Dokumentation, Regie und Buch: Frank Diederichs, Steffi Lischke, Kamera: René Dame, Martin Bochmann, Produktion: Beetz Brothers (ZDF, 1.10.24, 20.15-21.45 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 12.10.2024 10:57

Dominik Speck

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Dokumentation, Diederichs, Lischke, Speck

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