15.10.2024 09:14
Kaiserslautern im April 1994: Wenn Ottes (Leonard Kunz) gut drauf ist, dann ist er "der König von Deutschland". Singt Rio Reisers Lied mit einer Inbrunst und guten Laune, als gäbe es alles andere nicht. Nicht die Armut, nicht das Schuften als Möbelpacker für 800 Mark im Monat, nicht den Frust, den er an seiner Familie auslässt, nicht die Abstürze durch Alkohol und Gewalt. In solchen Momenten schaut ihn der zehnjährige Christian (Camille Loup Moltzen) an, als sei er der beste Vater der Welt. Denn er ist der beste Vater der Welt: der, den er hat. Und der auf ihn, das mittlere, oft übersehene Sandwichkind, seinen Blick richtet. Du und ich, sagt die Aufmerksamkeit, wir sind vom gleichen Schlag.
Christian, aus dessen Sicht der Fernsehfilm "Ein Mann seiner Klasse" von Marc Brummund (Regie und Buch) und Nicole Armbruster (Buch) erzählt ist, will wie der Vater sein. Irgendwann beginnt auch er, Sprachlosigkeit und Wut mit Schlägen zu bearbeiten. Da stört die Empfehlung fürs Gymnasium nur, als Einbruch in die harsche, gewaltvolle Realität dieser Familie. Christian verharmlost und glorifiziert diese Realität, wie viele Kinder aus Familien, in denen Misshandlung Alltag ist. Die systemische Psychologie beschreibt das als Überlebensstrategie. Diese bestimmt auch die Perspektive des Films von Brummund und Armbruster, beide verantwortlich für den halsabschnürenden Film "Freistatt" über die entsetzlichen Erziehungsmethoden in kirchlichen Heimen der späten Sechzigerjahre.
Immer, wenn es Christian gelingt, sieht er Ottes so, wie er sein sollte, nicht, wie er sich wirklich benimmt. Ignoriert die eingetretene Wohnungstür, stellt den Zeichentrickfilm lauter, wenn der Vater die schwangere Mutter Mira (Mercedes Müller) wieder brutal durch die Wohnung prügelt. Wenn die Kinder Schläge abbekommen, nimmt Christian das stoisch hin. Schaut weg. Wenn der Vater, schließlich arbeitslos, den Kindern das Essen wegnimmt und in den Müll wirft, weil man "kein Sozialschmarotzer" sei, verteidigt er aber die kleine Schwester Laura (Thurid Funck) mit ihrer Weigerung, die letzte Gabel abzugeben. Dass der ältere Bruder Benny (Len Blankenberg) ein Hörgerät tragen muss, weil Ottes ihn einst taub schlug, davon will Christian nichts hören.
"Ein Mann seiner Klasse" konzentriert sich auf die Beziehung zwischen diesem mal schrecklichen, mal verzweifelten Vater mit seinem Arbeiterstolz und dem Sohn Christian. Der ihn liebt und zu ihm in die nach dem Krebstod der Mutter verwahrloste Wohnung ziehen will, nach dem Motto "Wir zwei gegen den Rest der Welt". Auf das Gymnasium gehen hieße, diesen Vater zu verraten. Tante Juli (Svenja Jung), die es in ein kleines Reihenhaus in Kaiserslautern Kalkofen geschafft hat, kämpft um das Sorgerecht für die Kinder, nimmt alle drei auf, bekommt selbst ein viertes. Die andere Tante, Ella (Katharina Heyer), nimmt Christian mit in die Oper, ins Theater, besucht mit ihm die Redaktion einer Zeitung, für Christian eine zwiespältige Erfahrung.
Die Kamera von Matthias Bolliger zeigt Christians Gesicht: Wie er beobachtet, wie er das Gesehene in sich zu beruhigen sucht, wie er still ist, die heimlich geschriebenen, tröstlichen Gedichte der Mutter liest und den Frust des Vaters wegsteckt. Und sie beobachtet seine Hände, die im Konflikt mit seinen Handlungen und Reden zu stehen scheinen. Wie er das Autositzleder im Cabrio der Tante Ella insgeheim streichelt. Wie er die Zeitung und die schönen Gratis-Kulis weglegt. Wie er, hungrig wie seine Geschwister, die Tapete über seinem Stockbett abpult und isst. Die Tapete, hinter der sich später lauter Schimmel und Moder findet, Auslöser für sein Asthma.
Man kann darüber streiten, ob es angemessen ist, die soziale Verwahrlosung in dieser Familie mit Nostalgie in warmleuchtenden Farben zu zeigen. Man kann sehr darüber im Zweifel sein, ob Christians vom Vater übernommene Wir-gegen-den Rest-der-Welt-Haltung in einem Film über krasse Gewalt in der Familie angemessen ist. Das autobiografische Buch von Christian Baron wurde von einigen Rezensenten stark kritisiert, weil es vor allem auf den Klassismus abhebt und die Gewalt des Vaters, das Elend der Mutter und die vorgezeichnete Chancenlosigkeit der Kinder augenscheinlich vor allem als Produkt sozialer Hoffnungslosigkeit zeichnet und auf fehlende sinnvolle Hilfe der Behörden zurückführt.
Man kann jedoch sehen, dass der Film komplexer ist als das Buch. Christians Blick, Christians erzählimmanent angemessene Verteidigung des Vaters schuldet sich der Liebe des Kindes. Brummund und Armbruster betonen aber auch die Brüche in dieser Sichtweise. Eben noch fährt der Vater die Kinder und die Mutter im geliehenen Auto zur seltenen Freizeitpark-Sause, Ottes und die Kinder sind super drauf, plötzlich brennt seine Sicherung durch und er legt sich an der Ampel handgreiflich mit einem anderen Autofahrer an.
Leonard Kunz spielt diesen Vater, den Verlierer Ottes, berührend. Dem Film gelingt die Balance. Wir sehen keine Entschuldigung für den Täter, Verständnis für diesen überforderten, selbst erniedrigten und misshandelten Menschen. In einer der erschreckendsten Szenen versucht Ottes Vater Opa Horst (Steffen Wink) Tante Juli auf dem Küchenboden zu vergewaltigen. Bis Christian mit einem großen Küchenmesser dazwischengeht. Ottes eigene Kindheit kann man sich vorstellen.
Ein Paradies dagegen ist der Fußball, sind die Erfolge des 1. FCK, bei denen Christian und der Vater in Begeisterung schwelgen. In der Zuflucht der Kneipe, während Alkohol fließt und die Trinker sich in den Armen liegen. Familiengericht und Jugendamt, auch das Gymnasium, sind kontrastierend Orte fast ohne Menschen. Wo Christian von einer Richterin zur Gewalt des Vaters befragt wird und standhaft leugnet, wo der Mann vom Jugendamt dagegen ist, dass Christian auf das Gymnasium geht, weil er sowieso scheitern werde oder teure Nachhilfe brauche, und mit Hauptschulabschluss schnell in "Lohn und Brot" käme. Die Gymnasialempfehlung funktioniert wie der Falke in der Novelle. Der notwendige Anlass für Buch und Film, um über strukturelle Ungerechtigkeit und fehlende soziale Durchlässigkeit hierzulande zu berichten.
Christian Baron macht sich und seine berührende Geschichte (er selbst machte Abitur, studierte und wurde Journalist, wie auch dokumentarische Familienfotos im Abspann zeigen) zum eindeutigen Beispiel. Er betont die Chancenlosigkeit des Vaters, des Großvaters, das Bleierne der Armut. Das stimmt soweit alles, aber der Film geht weiter. Das Drehbuch fasst die Probleme sehr genau, Regie und Kamera gelingt es, das Schreckliche, Dumpfe und Gewaltsame in komplexere Szenen einzubetten, in denen der Täter klar gezeigt wird.
Wesentlich für die Eindrücklichkeit des Films ist der Cast: Camille Loup Moltzen und Leonard Kunz spielen ihre Figuren mit Würde, ohne Verharmlosung. Mercedes Müller beeindruckt als geschlagene Frau, die immer wieder versucht, diesen Mann mit den Kindern zu verlassen, doch ihr fehlt die Kraft. Svenja Jung überzeugt als kämpfende Tante, die wenigstens Christian zu seinem Glück zwingen will. Von Sozialkitsch oder gar Gewaltromantik ist "Ein Mann seiner Klasse" weit entfernt.
infobox: "Ein Mann seiner Klasse", Fernsehfilm, Regie: Marc Brummund, Buch: Nicole Armbruster.Marc Brummund nach dem gleichnamigen Buch von Christian Baron, Kamera: Matthias Bolliger, Produktion: Saxonia Media (ARD/SWR, 2.10.24, 20.15-21.45 Uhr und bis 3.10.25 in der ARD-Mediathek).
Zuerst veröffentlicht 15.10.2024 11:14
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSWR, Fernsehfilm, Baron, Brummund, Armbruster, Hupertz
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