27.10.2024 13:00
epd Verwirrung ist die rundfunkgeschichtlich geerbte DNA des Hörspiels "Radiologie": Es rekapituliert "Zauberei auf dem Sender - Versuch einer Rundfunkgroteske", das allererste deutschsprachige Hörspiel, und dichtet es weiter. Vor 100 Jahren, am 24. Oktober 1924 abends um halb neun, staunten die wenigen Hörer, die in den Anfangstagen des zivilen Rundfunks vor ihren Radios saßen: Der erst 27-jährige Rundfunkpionier Hans Flesch, ausgebildeter Arzt mit Schwerpunkt Radiologie, hatte sich einen visionären Schabernack ausgedacht: den Einbruch des Chaos in die Ordnung einer Live-Aufführung im Radio, bei der das Chaos erst zum Kunstwerk führte.
Eigentlich sollte ein Konzert beginnen, doch eine renitente "Märchentante" platzt ins Studio und verlangt den Leiter zu sprechen, "nur zwei Minuten". Der will sie abwimmeln, doch das Mikrofon lässt sich nicht ausschalten, Techniker, Ansager und Mitwirkende sind ratlos. Die Hörer werden Ohrenzeugen eines wachsenden Kontrollverlusts, sogar die Musikinstrumente scheinen plötzlich von alleine zu spielen, was manche abstreiten. Anrufer nerven, jeder im Sender scheint etwas anderes zu hören, die Verwirrung ist total. Schließlich tritt sogar ein Zauberer auf und behauptet, die Zuhörer zu Hause könnten ihn sehen in den Röhren ihrer Radios, er müsse nur bis drei zählen.
Als wäre es das Selbstverständlichste, ein neues Medium auf Anhieb dermaßen zu durchdringen, auseinanderzunehmen und als karnevaleske Groteske abzufeiern, entfaltete Flesch seine praktische Theorie des Hörspiels aus dem Geist des Störgeräuschs. Er fragte: Könnte das Radio eine eigene Kunstform sein, etwas auf eine Weise zeigen, wie es weder das Theater, noch das Konzert, noch das Kino kann?
Flesch, seit April 1924 künstlerischer Leiter der Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG (SÜWRAG) in Frankfurt am Main, hat mit "Zauberei auf dem Sender" nicht nur das Fernsehen spielerisch mitgedacht, das zu jener Zeit erst entwickelt wurde (Vladimir Zworykin hatte 1923 den ersten elektronischen Bildabtaster entwickelt, die "Ikonoskop-Röhre", 1926 sollte der ungarische Physiker Kálmán Tihanyi das "Radioskop" erfinden). Er hat vor allem auch die Möglichkeiten des damals noch neuen und störanfälligen, potenziell disruptiven Mediums Radio zum Ereignis gemacht. In Echtzeit simulierte er Sound-Montagen. In Fragmenten aus Märchen und Meldungen, technischen Anweisungen und medientheoretischen Reflexionen ließ er die Funktionsweise des Maschinenraums Radio selbst zur Story werden. Die Geschichte des Hörspiels beginnt mit seiner Dekonstruktion.
Das Originalhörspiel von 1924 werden wir aber nie wieder zu Gehör bekommen, denn es wurde nicht aufgezeichnet. Es ist nur schriftlich überliefert. Schon damals, in einer Kritik vom 1. November 1924, wurde es jedoch als ein Versuch bezeichnet, "der anregt, der zu neuen Radioschöpfungen führen soll". Flesch haben später die Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot geächtet, nach dem Krieg hätte er auf Wunsch der Alliierten den RIAS leiten sollen, doch er ist 1945 verschollen.
Das späte Echo auf Flesch von Andreas Ammer und Driftmachine mit dem doppeldeutigen Titel "Radiologie" hat eine Art Trost zu bieten: Alles via Radiowellen Gesendete breite sich im Weltall ewig aus, erklärt die neue Märchentante, streng und melodisch gesprochen von Frauke Poolman. Deshalb könne auch "Zauberei auf dem Sender" nach 4247 Jahren auf Proxima Centauri nachgehört werden. Die ersten 100 davon haben wir schon geschafft. Oder ist das Ganze nicht sowieso nur "the sound of a piano falling down the stairs", wie Ted Milton in einer beschwörenden Kaskade von Varianten dieser Zeile sagt? Ein grässliches Klanggemisch, für den Sprecher aber offenbar von einer flüchtigen Schönheit, nach der er sich regelrecht verzehrt.
Eine Neuinszenierung der "Zauberei" durch Theodor Steiner für den Hessischen Rundfunk von 1962 kann man in der ARD-Audiothek tatsächlich nachhören. Das empfiehlt sich als Vor- oder Nachbereitung, um "Radiologie" nicht nur in seiner musikalischen, hypnotischen Kraft, sondern auch in seiner kompositorischen Vielschichtigkeit genießen zu können. Denn Ammer und seine Kompagnons von Driftmachine, Andreas Gerth und Florian Zimmer an ihren Modularsynthesizern sowie der Video- und Noise-Künstler Anton Kaun (alias Rumpeln) versuchen sich nicht einfach an einer weiteren Neuinszenierung des hundertjährigen Werks. Sie verarbeiten es traum- und albtraumhaft.
Textfragmente des Originals lassen sie neu einsprechen und stellen sie neben knarzige Ausschnitte aus dem Werk von 1962, das wiederum aus einer Kritik in der "Radio-Umschau" aus dem Jahr 1924 zitiert. Bei Ammer/ Driftmaschine verliest nun die Märchentante die Radiokritik, ein feiner Hinweis auf das längst verblasste Potenzial auch der Kritik als Störfaktor.
Die historischen Texte dienen als Partituren. Aus dem Ausruf "Zahlen, nichts als Zahlen" in der Radiokritik wird nun punkiger Gesang zum düster marschierenden Viervierteltakt: Valerian Herdam singt "eins, zwei und drei", "drei und sechs", "elf und neun", legt aber so viel Spott, Verzweiflung und Ekstase in jede Zahl, als wäre sie unendlich aufladbar mit Emotion, der wichtigsten Währung in der medialen Aufmerksamkeitsökonomie.
Dazwischen: Collagen aus alten Radiosendungen, darunter die Lesung eines erotischen Romans, eine Reportage vom Begräbnis Gustav Stresemanns und eines Boxkampfs, Werbung für Kosmetik und Schnaps, kritische Zeitkommentare über die "unvereinigten Staaten Deutschlands", Krimis, Abenteuerromane, ein Plädoyer für den "gelegentlichen Exzess" durch Alkohol, philosophische Texte über das Verhältnis zu sich selbst, sogar Latein wird gesprochen.
Auch "Radiologie" wurde ursprünglich live aufgeführt. Mit dem Untertitel "Entzauberung auf dem Sender" war die Multimedia-Inszenierung beim Berliner Hörspielfestival in der Akademie der Künste am 15. September auf der Bühne zu sehen und zu hören.
Was hat man dem Radio einmal alles zugetraut und zugemutet: Hier darf es davon noch einmal träumen. Ammer dichtet dazu Abgesänge auf "das Hörspiel". Künftige Vergangenheit und alte Zukunft implodieren im Moment. "Es wird ein Radio gegeben haben", spricht der Moderator von "Titel, Thesen, Temperamente" Max Moor im Futur II, "es wird seinen Untergang gesendet haben". Radio, Fernsehen, Kulturformate: Von wo aus gesehen war das nochmal die Zukunft?
Dass die Zertrümmerung althergebrachter Medien Befreiung bedeuten kann und die Entfesselung des Neuen dennoch Entsetzen birgt, ist beiden Hörspielen als Wissen eingeschrieben. Dem Jahrhundert, das sie umspannen, haben sie genau zugehört, jeweils mit einem Ohr in der Vergangenheit und einem in der Zukunft, mit einem Bein in der Utopie und dem anderen in der Grässlichkeit von Krieg und Verwirrung.
"Alles gleichzeitig", entsetzt sich die Märchentante, "Trommelfellangst!" Wenn bei Flesch am Ende aus dem Donauwalzer erst etwas Dissonantes wird und schließlich ein Marsch, dann hat nicht das Chaos gesiegt, sondern eine neue, unheilvolle Ordnung, die uns heute bekannt vorkommt.
infobox: "Radiologie", Hörspiel, Regie und Buch: Andreas Ammer, Driftmachine (Andreas Gerth, Florian Zimmer), Komposition: Andreas Ammer, Driftmachine, Anton Kaun (Deutschlandfunk Kultur, 25.10.24, 0.05-1.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 27.10.2024 14:00 Letzte Änderung: 29.10.2024 15:26
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KDeutschlandfunk Kultur, Hörspiel, Ammer, Gerth, Zimmer, Kaun, Lutz, NEU
zur Startseite von epd medien