29.10.2024 13:21
epd In diesem Frühjahr startete Arte die Reihe "Zeichnen aus Protest". Die bisherigen fünf Folgen waren Karikaturistinnen gewidmet, die unter unterschiedlich riskanten Bedingungen in Ländern arbeiten oder arbeiteten, in denen die Meinungsfreiheit abgeschafft oder eingeschränkt ist: Syrien, Ägypten, Russland, Indien und Mexiko. "USA: Demokratie unter Beschuss", die aktuelle Dokumentation in dieser Reihe, fällt etwas aus dem Rahmen, denn für die hier vorgestellte Karikaturistin der "Washington Post", Ann Telnaes, ist ihre Arbeit nicht gefährlich - zumindest noch nicht.
Der Titel von Laura Nix’ Film erweckt auf den ersten Blick nicht sonderlich viel Neugierde. Denn dass die Demokratie in den USA "unter Beschuss" steht, ist keine überraschende Erkenntnis. Die Regisseurin leistet in dieser Dokumentation, in der sie die Statements von Experten durch Telnaes’ Zeichnungen veranschaulicht, aber viel mehr, als mit prägnanter Bündigkeit diesen "Beschuss" zu beschreiben.
Heather Cox Richardson, Professorin für Amerikanische Geschichte und derzeit eine der wichtigsten Intellektuellen in den USA, sagt im Film: "Die Leute dachten, dass unsere Demokratie sicher sei, solange keine Panzer auf den Straßen zu sehen sind, aber die Wahrheit ist, dass Demokratien eher in Wahllokalen und nicht auf dem Schlachtfeld ihr Ende finden." Dass dies in den USA möglich sein könnte, ist, flapsig formuliert, ein hausgemachtes Problem.
Die Kernaussage von Nix’ Film lautet, dass die Schwäche der ältesten Demokratie der Welt darin besteht, dass sie strukturell veraltet ist. Die Rechtswissenschaftlerin Melissa Murray sagt, in der US-Verfassung seien "viele antidemokratische Tendenzen verankert", das seien "Überbleibsel der Kompromisse", die 1787 gemacht wurden, "um die Sklaverei aufrechtzuerhalten". Und der für die Zeitschrift "The Nation" als Justiz-Korrespondent tätige Elie Mystal meint: "Unsere Verfassung war 1787 womöglich eine gute Idee, wenn man weder Sklave noch weiblich war." Sie sei aber "nie auf eine vernünftige Art modernisiert" worden. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sie in der Praxis nur schwer "modernisierbar" ist: Einer Änderung müssen zwei Drittel von Kongress und Senat sowie drei Viertel der Bundesstaaten zustimmen.
Der Senat wiederum habe, so Melissa Murray, einen "antidemokratischen" Charakter: Weil jeder Bundesstaat unabhängig von seiner Bevölkerungszahl zwei Senatoren hat, sind bevölkerungsarme Bundesstaaten weitaus besser repräsentiert, North Dakota mit seinen 700.000 Einwohnern also wesentlich stärker als Kalifornien mit seinen 38 Millionen.
Steven Levitsky, Professor für Regierungslehre an der Harvard University, sagt, es habe "viele Fälle" gegeben, "in denen Minderheiten im Senat Gesetzgebung blockieren konnten, die von einer konstanten Mehrheit der Amerikaner unterstützt wurden". Er führt mehrere Beispiele dafür an, dass die USA im globalen historischen Vergleich einzigartig sind - allerdings in einem weniger guten Sinne: Im 19. und 20. Jahrhundert hätten "fast alle anderen Demokratien der Welt" Institutionen, die mit dem US-Senat vergleichbar seien - in Großbritannien etwa das House of Lords - "abgeschafft, geschwächt oder anderweitig demokratisiert".
Levitsky stellt außerdem heraus, dass die USA die einzige Präsidialdemokratie mit einem Wahlmännerkollegium sei - nachdem Argentinien seines 1994 abgeschafft habe. Nicht zuletzt, so der Harvard-Professor, seien die Vereinigten Staaten weltweit die einzige Präsidialdemokratie, in der jemand zum Präsidenten gewählt werden kann, der die Wahl nach Stimmenanteilen verloren hat. Der demokratische Abgeordnete Jamie Raskin betont, dass das in diesem Jahrhundert zweimal der Fall war: 2000, als George W. Bush siegte, und 2016, als Donald Trump drei Millionen Stimmen weniger bekam als Hillary Clinton.
In dem Zusammenhang von einem ungerechten Wahlsystem zu sprechen, wäre allerdings unpräzise. Schließlich gibt es landesweit 50 verschiedene Wahlgesetze, die einige Bundesstaaten nutzen, um die Rechte von Minderheiten einzuschränken. So seien in den Zehnerjahren Wahllokale an "für Minderheiten unzugängliche Orte" verlegt oder die Art der Stimmeneinholung in den Reservaten indigenen Amerikaner imitiert worden, sagt Melissa Murray.
Die Porträt-Elemente und die verfassungs- und demokratiegeschichtlichen Passagen in Nix’ Film ergänzen sich gut. Die Regisseurin verwendet nicht nur Ann Telnaes’ Karikaturen (die für den Film teilweise animiert wurden). Nix hat sie auch Infotafeln gestalten lassen. Dank Telnaes’ Kunst bekommt der Film einen einzigartigen Look - und zudem einen Hauch von Leichtigkeit. Eine Leichtigkeit, die der Ernsthaftigkeit und den potenziell dramatischen Ausmaßen des Themas aber stets gerecht wird.
infobox: "USA: Demokratie unter Beschuss", Dokumentation, Regie und Buch: Laura Nix, Kamera: Matteo Robert Morales, Zeichnungen: Ann Telnaes, Animationen: David Degrande, Alise Issabareva, Produktion: Clin d'oeil films, A_Bahn, Majade (Arte/WDR, 22.10.24, 20.15-21.45 Uhr; Arte-Mediathek seit 15.10.24)
Zuerst veröffentlicht 29.10.2024 14:21 Letzte Änderung: 31.10.2024 13:16
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KWDR, Dokumentation, Nix, Martens, NEU
zur Startseite von epd medien