06.11.2024 14:57
epd Alle vier Jahre wählen US-Amerikaner ihren Präsidenten. In den deutschen Medien findet dieser Wahlkampf traditionell breite Aufmerksamkeit, denn damit werden weltpolitische Weichen gestellt. Zu einer Zeit, in der neben dem Krieg in der Ukraine auch in Nahost eine militärische Auseinandersetzung geführt wird, erscheint die Frage, wer in den USA das höchste politische Amt einnimmt, noch brisanter als sonst.
Jan Tenhaven und Jens Strohschnieder haben mehrere US-Amerikaner vom Winter bis zum Spätsommer mit der Kamera begleitet. Unter ihnen ist eine junge Frau aus Missouri, eine 18-Jährige aus religiöser Familie, die erstmals zur Wahlurne gehen wird. Die Kamera zeigt die Schülerin bei ihren Hausaufgaben. Besonders interessiert sie sich für die deutsche Teilung. Ihr aufgeschlagenes Schulheft zeigt eine Skizze der Berliner Mauer, in die sie alle Stellen eingezeichnet hat, an denen Menschen durch einen Tunnel ihren Weg in die Freiheit fanden.
Mauern zwischen den Welten, das ist ein Schlüsselthema dieser vierteiligen Dokumentation. Denn das Thema der illegalen Migration wird womöglich wahlentscheidend sein. Ein frustrierter Sheriff, der in Cochise County in Arizona an der Grenze zu Mexiko stationiert ist, zeigt dem Kamerateam, wie ein mexikanisches Drogenkartell durch einen erst kürzlich entdeckten, mehrere 100 Meter langen High-Tech-Tunnel tonnenweise Drogen in die USA schmuggelte. Darunter Fentanyl, ein gefährliches Rauschmittel.
Über die Zahl der Drogentoten sowie den wirtschaftlichen Schaden, der dadurch entsteht, dass Drogenabhängige dem Arbeitsmarkt entzogen werden, informiert der Film eher am Rande. Gezeigt werden immerhin zwei Streetworker, die sich in San Francisco liebevoll um die zahlreichen Obdachlosen kümmern, von denen man sonst wenig erfährt. Die meisten von ihnen betäuben sich mit Fentanyl.
Zu den markantesten Protagonisten des Vierteilers zählt ein indischstämmiger Migrant, der ebenfalls aus Mexiko in die USA kam, als Illegaler. Inzwischen hat er Fuß gefasst und als Betreiber einer Tankstelle ein ansehnliches Auskommen. Vor der Kamera rechnet er vor, dass unter der Biden-Regierung Diesel um 73 Prozent und Normalbenzin um 47 Prozent teurer wurden. Obwohl er selbst Migrant ist, wird er Trump wählen, weil dessen Energiepolitik seinen Interessen entspricht. In einem Flächenstaat, in dem Menschen vom Auto abhängig sind, seien hohe Spritpreise sozial unverträglich. Der Off-Kommentator wendet ein: "Auf die Idee, sparsamere Autos zu fahren, kommen hier nur wenige. Dann lieber mehr Öl fördern."
Kommentare dieser Art prägen die vierteilige Dokumentation. Über Ronda Kennedy, eine schwarze Trump-Wählerin, die von ganz unten kommt und nun als Rechtsanwältin gut verdient, heißt es, sie genieße in ihrer Gated Comunity eine "erkaufte Sicherheit, die Wohlhabenden sind unter sich".
Anders ist der Tonfall bei Doug Pagitt, der als Anhänger der evangelikalen Glaubensgemeinde eigentlich zur konservativen republikanischen Stammwählerschaft zählen müsste. Da er aber mit einem Bus durchs Land tourt, um Glaubensgenossen für die Demokraten zu mobilisieren, bezeichnet der Off-Kommentar ihn als "progressiven Pastor". Pagitt kritisiert den "Christlichen Nationalismus", eine fundamentalistische Bewegung, die die Trennung von Kirche und Staat aufheben will.
Sieht man davon ab, dass die beiden Autoren mit ihrer Dokumentation gelegentlich selbst in den Wahlkampf mit einzugreifen scheinen, gelingen ihnen doch immer wieder markante Beobachtungen. Geradezu rührend sind die Bemühungen des ehrenamtlichen Bürgermeisters Rich Lattanzi, der in Clairton, Pennsylvania, mit unermüdlichem Enthusiasmus die marode Infrastruktur der Stadt am Laufen zu halten versucht. Eine Sisyphusarbeit. Gemäß seiner Interessenlage würde ein Wahlsieg der Demokraten mehr Sinn machen.
Der Film zeigt ein zerrissenes Land. Überrascht ist man zuweilen über den Verlauf der Fronten. Noch bevor Kamala Harris Präsidentschaftskandidatin wurde, blockierten Jugendliche, denen ihre Klimapolitik nicht radikal genug war, die Straße vor Harris' Haus. Szenen vom Campus der Universität New York, wo pro-palästinensische Studenten vermummt gegen Israel demonstrieren, muten an wie aus einer Parallelwelt. Der Film zeigt auch verunsicherte jüdische Studenten, die während einer TV-Ansprache von Joe Biden vergeblich darauf warten, dass er das Massaker vom 7. Oktober 2023 erwähnt.
Die beiden Autoren fügen unterschiedliche Eindrücke aus zahlreichen Bundesstaaten zu einem aufschlussreichen Bild zusammen. Der Vierteiler stellt jedoch manches unscharf dar. Luft nach oben hat er auch bei der plakativen Musikuntermalung. Mit "Aus der Traum? Die Amerikaner im Wahljahr" legten Tenhaven und Strohschnieder vor vier Jahren einen sechsteiligen Beitrag zum gleichen Thema vor - mit ganz ähnlichen stakkatoartigen Geigenklängen.
infobox: "Amerika 2024 - Die Unversöhnlichen", vierteilige Dokumentation, Regie und Buch: Jan Tenhaven, Jens Strohschnieder, Kamera: Alex Foster, Produktion: Nordend Film (Arte/ZDF, 22.10.24, 22.40-2.15 Uhr, Arte-Mediathek, bis 19.1.25)
Zuerst veröffentlicht 06.11.2024 15:57 Letzte Änderung: 08.11.2024 12:03 (Wir haben die Aussage des Pastors Doug Pagitt korrigiert. Dieser grenzt sich in dem Beitrag vom "Christlichen Nationalismus" ab)
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KZDF, Dokumentation, Tenhaven, Strohschnieder, Riepe, BER, NEU
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