07.11.2024 08:55
70 Jahre "Wort zum Sonntag" in der ARD
epd Schon wieder ein runder Geburtstag. Staunt man bei anderen Menschen oder sich selbst häufig über die nächste erreichte Null, so wenig verwunderlich erscheint das nächste vollendete Jahrzehnt beim "Wort zum Sonntag". Wer es in die Liga der zur Marke geronnenen Titel, auf die Satire-Bühnen und in die Buzzer von "TV Total" geschafft hat, der muss doch immer schon da gewesen sein. Tatsächlich ist im deutschen Fernsehen nur die "Tagesschau" ein wenig älter als diese Grande Dame der Verkündigung, die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag feiert.
In regelmäßigen Zehnersprüngen jähren sich damit auch die Rückblicke und Würdigungen auf das kleine Format, dessen große Beharrungskräfte mit rund 64 Millionen Zuschauenden pro Jahr durch alle gesellschaftlichen, medialen und kirchlichen Veränderungen hindurch wohl am häufigsten thematisiert werden. Eindrucksvoll konstant ist es das geblieben, was es von Beginn an war: Eine Unterbrechung des Alltags mit dem einen guten christlichen Gedanken am Ende des Samstags. Oder mit den Worten des einstigen Medienaufsehers Norbert Schneider, der zum 50. Geburtstag des "Wort zum Sonntag" im "Focus" schrieb: Es ist die "christliche Botschaft, einfach und knapp erklärt und verkündet, ohne Schaum auf dem Schirm".
Der Charme jedes Jubiläums liegt nun darin, dass mit den dazu angestellten Recherchen zugleich auch das historische Wissen über die Sendung wächst. Je länger die Rückblickspanne wird, desto deutlicher leuchten ihre markanten Entwicklungen und Eigenheiten auf.
So war die Rolle der Frauen beim "Wort zum Sonntag" bislang unterbelichtet: Nur 43 der bis heute über 320 Sprechenden waren, so der ARD-Beauftragte Stephan Born, Frauen. Lag die Quote der von Frauen gesprochenen Worte noch bis 1989 bei mageren 6,2 Prozent, so stieg sie gleich nach der Wende 1990 rasant auf 36 Prozent an. Seit 2014 ist mit 45 Prozent Sprecherinnen fast die Parität erreicht.
Ein Fun-Fact: Während in der Riege der männlichen Sprecher die klassischen Würdenträger - Priester und Pfarrer - vorherrschten, fiel die Wahl der ersten Frauen häufig auf eher außergewöhnliche Kandidatinnen. Wenn schon kein Mann, dann richtig exotisch: Die erste Sprecherin überhaupt war noch in der Ausbildung. Vikarin Marion Nordmann ging, fälschlicherweise angekündigt mit dem Namen einer Sängerin, 1957 ein einziges Mal auf Sendung. Danach sahen die Fernsehzuschauer zwölf lange Jahre keine einzige Frau beim "Wort zum Sonntag". Als erste Nicht-Theologin kam dann mit Liselotte Nold eine Verlagsleiterin und Kämpferin für die Förderung von Frauen auf den Schirm.
Barbara Hahne, eine gelernte Friseurin und Pfarrersgattin, sollte Anfang der 70er Jahre unverhohlen vor allem aufgrund ihrer attraktiven Erscheinung zur Zuschauergewinnung eingesetzt werden. Umgekehrt wusste manche Frau den Sendeplatz klug zu nutzen: 1974 zog die katholische Lehrerin und Politikerin Hanna-Renate Laurien gegen den Paragrafen 218 zu Felde, um mit diesem medialen Rückenwind tags darauf bei den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz zu kandidieren. In den 80er Jahren wurde Isa Vermehren eine der bekanntesten Sprecherinnen, die Ordensfrau war viele Jahre beim "Wort zum Sonntag" zu sehen.
Nicht nur die recht freie und noch wenig systematische Wahl der Sprechenden zeigt: So konstant und würdig sich die Sendung über die letzten sieben Jahrzehnte in der deutschen Fernsehlandschaft ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat, so sehr zeigte sie auch Experimentierfreude. Statisch mögen die anfänglichen theologischen Monologe von Herren am Tisch gewirkt haben, doch wenn heute die Sendezeit strikt auf vier Minuten begrenzt ist, gab es damals in dieser Hinsicht mehr Freiheiten: Je nach Gusto und Verkündigungsenergie konnten die Sprechenden - es wartete ja nur noch das Testbild im Anschluss - auch mal 20 Minuten reden. Kostenloses Programm für den Sender und aus kirchlicher Sicht übliche Predigtlänge.
Mit dem Programmausbau rutschte das "Wort zum Sonntag" zwischen die Sendungen des Samstagabends und hatte fortan zwischen Shows, Nachrichten, Wetter und Spätfilm den Spannungsbogen zu halten. Seit die ARD die Prime Time bis 23 Uhr verlängert hat, müssen die Sprechenden noch dazu gegen die Müdigkeit des Publikums anarbeiten. Vielleicht bräuchte es also zu so später Stunde doch wieder spektakuläre "Worte", wie sie in den 80er und 90er Jahren präsentiert wurden, mit performativen Elementen, Verkleidungen, Requisiten oder Labyrinthen im Studio. Oder den damals üblicheren Außendrehs, die das "Wort" von der Geburtsstation oder vom Seenotrettungskreuzer in die Welt sendeten.
Vieles durfte ausprobiert werden, nicht weniges fiel mit der Zeit dem sich wandelnden medialen Geschmack, der Rückkehr zur Schlichtheit oder - ebenso schlicht - den zu hohen Kosten für den Sender zum Opfer. So kommt die heutige Sendung ohne Schreibtisch doch wieder recht nüchtern daher, vielleicht mit Ausnahme der psychedelisch anmutenden pastellfarbenen Hintergründe.
Ausgebaut wurde umgekehrt die Organisation aufseiten der Kirchen: Mit dem klaren, durch kirchliche Gremien verantworteten System der Auswahl von nur noch acht, je vier evangelischen und katholischen Sprecherinnen und Sprechern ebenso wie mit ihrer kontinuierlichen Schulung und Begleitung haben sich die Kirchen zum Ziel gesetzt, im Anschluss an die vorausgehenden "Tagesthemen" qualitativ mit dem "aktuellen Kommentar aus christlicher Sicht" auf Augenhöhe mitzuhalten.
Dazu gehört auch eine intensive Rezipientenorientierung: Die Sprechenden müssen sich heute auf ein weniger kirchlich gebundenes zufälliges Publikum einstellen und jeglichen Fachjargon oder Fremdworte im Habermas'schen Sinne übersetzen. Ob die Menschen vor dem Fernseher auch früher schon voraussetzungsärmere Worte honoriert hätten, als es gesellschaftlich aber vielleicht noch peinlich war, die eigenen Unsicherheiten gegenüber kirchlichem "Allgemeinwissen" oder in den Untiefen der Feiertagsbedeutungen zu offenbaren, lässt sich nur vermuten.
Nein, jegliche Peinlichkeit scheint passé - im Guten wie im Bösen. Der Abstieg von hohen theologischen Rössern und der Abschied von vermeintlichen kirchlichen Selbstverständlichkeiten darf bei aller Klage über die schwindende christliche Sozialisation durchaus zu den willkommenen Entwicklungen gezählt werden. Nicht selten klaren die Worte dadurch auf, werden lebensnaher und transportieren im besten Fall in den Geschichten über Gott und die Welt tiefe theologische Einsichten und hilfreiche Orientierung.
Die rasante digitale Entwicklung und der enorme Ausbau von social media haben auf ihre Weise im vergangenen Jahrzehnt zu einer größeren Nähe zwischen der Sendung und ihren Zuschauenden beigetragen. Während in der Vergangenheit eine Reaktion auf die - natürlich rein linear ausgestrahlte - Sendung geschrieben oder getippt und dann verschickt werden musste, haben die sozialen Medien die Kommunikation in beide Richtungen beschleunigt und zugleich deutlich intensiviert.
Mit kurzen Videos auf Facebook wird das "Wort zum Sonntag" schon freitags beworben, die Sendung selbst lässt sich am frühen Samstagabend bereits in der Mediathek abrufen. Nimm das, Müdigkeit! Internetportale wie "evangelisch.de" promoten die Sendung mit "Shareables", die aus dem ohnehin kurzen "Wort zum Sonntag" noch kürzere Kernbotschaften mit dem Potenzial zum Viralgehen herausschälen. Unter all diesen Posts wird fleißig kommentiert, mit betenden Händen, Herzen oder auch eigenen Gedanken. Neben nur noch vereinzelten Anrufen oder handgeschriebenen Briefen nutzen die im Schnitt 62 Jahre alten Zuschauenden (was dem ARD-Altersdurchschnitt entspricht) vor allem E-Mails für eine persönliche Reaktion auf die Sendung und bekommen auf eben jenem Wege von den Sprechenden ebenso persönliche Antworten.
Es wäre den Kirchen zu wünschen, dass sie diese unzähligen kleinen, oft seelsorglichen Kontakte, die längst nicht nur nach dem "Wort zum Sonntag", sondern nach allen kirchlichen Verkündigungssendungen zu religiös zumindest musikalischen Menschen entstehen, einmal besser zu nutzen wüssten.
Die Kehrseite dieser beschleunigten und vereinfachten Kommunikation liegt auf der Hand und bewegt sich auf dem Grat zwischen einzelnen wütenden, diffamierenden E-Mails und ernstzunehmenden Shit-Storms. Diese werden, das ist keine Überraschung, gern dort entfacht, wo die mittlerweile bekannten Triggerpunkte angerührt werden: Gendern, Islam, Homosexualität oder zur Corona-Zeit das Impfen.
Zieht man die Unverschämtheiten ab, geht es im ernsthaften Kern der Diskussionen oft um den vermeintlich zu politischen Inhalt der Sendungen oder von der anderen Seite her um ihre zu schwache Besinnung auf ein scharf konturiertes "christliches Kerngeschäft". Dass radikal unpolitische "Worte zum Sonntag" die Nöte der Welt vernachlässigen würden und dass sie umgekehrt unter den Vorzeichen christlicher Hoffnung nicht in politischer Rede aufgehen können, hat bereits 1979 Jörg Zink klargestellt: "Gefragt ist ein 'Wort', dessen Ehrgeiz es nicht ist, ein politisches 'Wort' zu sein, das sich aber nicht scheut, politische Themen frontal anzugehen, wenn dies um der Wahrheit und um der Freiheit in unserem Lande willen nötig ist."
In einem Zug mit der Wut über politische Themen wird nicht selten auch die Frage gestellt, die, wie die Jubiläums-Rückblicke zum 50. oder 60. Geburtstag zeigen, für sich nicht neu ist, aber in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation auf einen anderen Nährboden trifft: Hat eine kirchliche Verkündigungssendung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in dieser Zeit überhaupt noch ihre Berechtigung? Wie plausibel ist es, den Kirchen noch Sendezeit einzuräumen, wo doch erstens alle Zeichen auf kontinuierlich sinkende Kirchenmitgliedschaft stehen und zweitens anderen Religionsgemeinschaften dieses Recht nicht eingeräumt wird?
Diese Frage kann womöglich zwar abstrakt zugunsten einer Pluralitätsstärkung, aber sicher nicht binnenkirchlich unabhängig von den erst einmal zu eruierenden Perspektiven und Bedürfnissen der anderen Religionsgemeinschaften beantwortet werden. Rolle und Relevanz des Wortes zum Sonntag im Jahr 2024 lassen sich dagegen durchaus diskutieren. Der pure Verweis auf die geschrumpfte Zahl der Kirchenmitglieder erscheint zumindest noch dünn. Zum einen sind die noch fast 60 Prozent Kirchenmitglieder in Deutschland keine unerhebliche Gruppe. Zum anderen: Schon die Beobachtung, dass kaum jemand ernsthaft gegen teure Fußballspiel-Übertragungen mit der prozentual geringen Vereinsmitgliederdichte oder gegen riesige Schlagersendungen mit der überschaubaren Fanszene argumentieren würde, lässt ahnen: Hinter der Anfrage an Verkündigungssendungen steckt eine viel grundsätzliche Kritik an der Bedeutung der christlichen Kirchen als gesellschaftlich agierende Institutionen.
Nehmen wir also jetzt schon ernst, dass die Mitglieder prognostisch im nächsten Jahrzehnt noch deutlich weniger und damit quantitative Argumentationen schwächer werden, braucht es inhaltliche, qualitative Perspektiven auf die Rolle von Kirche in den Medien. Eine solche hat kürzlich der mit seiner RTL-Privatfunk-Vergangenheit unverdächtige Peter Kloeppel im epd-Interview in den Diskurs eingetragen: Das christliche Menschenbild dürfe "auch in der medialen Darstellung nicht an den Rand gedrängt werden in einer Welt, die sich zunehmend entfernt von Werten wie Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Zuversicht sowie der Bereitschaft, einander zuzuhören und unsere natürlichen wie auch ethischen Lebensgrundlagen zu erhalten."
Wie die vielen Reaktionen im Anschluss an das "Wort zum Sonntag" zeigen, verhält sich das sinkende Ansehen der Institution Kirche umgekehrt proportional zum steigenden Bedarf nach Orientierung und Sinn in der krisengeschüttelten und mit Meinungen überschütteten Gesellschaft. Dabei geht es längst nicht mehr um Deutungshoheit. Vielmehr sieht sich die christliche Verkündigung in heutigen Zeiten zu Deutungsangeboten und Orientierung gerufen, die, so viel muss der christliche Freiheitsbegriff selbst hergeben, ergriffen oder abgelehnt werden können.
infobox: Für den Inhalt der Verkündigungssendung "Wort zum Sonntag" am Samstagabend im Ersten sind die Kirchen verantwortlich. Das erste "Wort zum Sonntag" sprach am 8. Mai 1954 der Hamburger Pastor Walter Dittmann. Derzeit gibt es acht regelmäßige Sprecherinnen und Sprecher, die abwechselnd die Sendung gestalten, je vier katholische und evangelische. Seit 1954 sind mehr als 3.600 "Worte" gesprochen worden. Im Schnitt sahen 2023 1,24 Millionen Menschen das "Wort zum Sonntag", das entspricht einem Marktanteil von 8,4 Prozent.
Das "Wort zum Sonntag" ist nicht nur erwachsen genug, sondern hält auch Ablehnung professionell und christlich versiert aus, weiß es doch um die eigene Kontingenz und lenkt im Wesen den Blick immer von sich weg zu Gott und der Welt hin. Zu den unverwechselbaren und nicht austauschbaren Besonderheiten dieses Angebotes gehört es, dass es zwischen tröstenden Perspektiven auf das Leben in der Welt und der Glaubenshoffnung vermittelt, die nicht von dieser Welt ist. Damit dürfte das "Wort zum Sonntag" zu den frühen Vertretern des in der Medienlandschaft zunächst so oft verlachten, mittlerweile immer mehr in seiner gesellschaftlichen Bedeutung geschätzten Konstruktiven Journalismus zählen.
Stellt sich bei vielen menschlichen 70. Geburtstagen die bange Frage, ob die nächste Null wohl noch gefeiert wird, so darf man beim "Wort zum Sonntag" vorsichtig optimistisch sein. Zu sehr wird es gebraucht. Möglicherweise wird der nächste Jubiläums-Rückblick mit dem endgültigen Abschied von der linearen Fernsehwelt hadern oder die neu eingeführte Diversitätsquote bei den Sprechenden feiern, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit wieder die erstaunliche Beharrlichkeit im Trösten und Hoffnung-Wecken würdigen und zu dem Schluss kommen: Ein Samstagabend ohne Wort zum Sonntag wäre möglich, aber sinnloser.
Copyright: epd-bild/Heike Lyding Darstellung: Autorenbox Text: Stefanie Schardien ist theologische Direktorin des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik und Sprecherin beim "Wort zum Sonntag".
Zuerst veröffentlicht 07.11.2024 09:55 Letzte Änderung: 07.11.2024 10:19
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kirchen, Wort zum Sonntag, Schardien, Born, ARD, NEU
zur Startseite von epd medien