10.11.2024 09:20
epd Krawall-Talkshows erfreuten sich zeitweise insbesondere bei Privatsendern einiger Beliebtheit, aber auch in öffentlich-rechtlichen Gesprächsrunden ging es früher schon mal handgreiflich zu. Die Talkshow "3nach9" von Radio Bremen feiert ihren 50. Geburtstag, und im Rückblick darf der Zaubertinte verspritzende Kommunarde Fritz Teufel und die Rotwein-Retourkutsche des Finanzministers Hans Matthöfer im Jahr 1982 nicht fehlen. Und zwischen einem Bordellbesitzer, der SPD-Politikerin Herta Däubler-Gmelin und der österreichischen Feministin Gerlinde Schilcher flogen 1984 erst die Fetzen, dann ein Glas.
Wirklich brenzlig wurde es aber beim Auftritt des rechtsextremen "Republikaner"-Chefs Franz Schönhuber (1990). Wütende Demonstranten warfen Steine und sorgten beinahe für einen Abbruch der Sendung. "Man kann sich heute noch fragen, ob es richtig ist, in eine Unterhaltungssendung jemanden wie Franz Schönhuber einzuladen", sagt "3nach9"-Moderator Giovanni di Lorenzo.
In die Erinnerung an die turbulentesten Momente mischt sich die Sehnsucht nach den wilden Zeiten des Fernsehens, als Redaktionen noch ohne Furcht vor schwachen Einschaltquoten und ohne Rücksicht auf empörte Reaktionen aus Politik und Öffentlichkeit experimentierten. Das kleine Radio Bremen war ganz vorne mit dabei, galt vor allem in den 1970er und 1980er Jahren als kreative Ideenschmiede und schmückt sich noch heute gerne damit: Die "Mutter aller Talkshows" nennt sich "3nach9", weil sie "die am längsten laufende Talk-Sendung Deutschlands" ist, wie der Sender zutreffend schreibt.
Dennoch ist die Bezeichnung als "Mutter" mindestens irreführend, denn bevor das neue Unterhaltungsformat am 19. November 1974 an den Start ging, war die WDR-Talkshow "Je später der Abend" mit Dietmar Schönherr bereits eineinhalb Jahre auf Sendung, anfangs noch in Schwarz-Weiß. Allerdings hielten die Kölner Pioniere nur fünf Jahre durch. Beim WDR setzte man stattdessen seit 1976 auf den "Kölner Treff" mit Alfred Biolek und Dieter Thoma. Die "NDR Talk Show" folgte 1979, das SWR-"Nachtcafé"1987. In der DDR gab es keine vergleichbaren Formate, das "Riverboat" des MDR startete 1992.
In Bremen orientierte sich Programmdirektor Dieter Ertel mit "3nach9" weniger an US-amerikanischen Talkshow-Vorbildern. Stattdessen setzten er und Regisseur Mike Leckebusch ("Beat-Club", "Musikladen") bewusst auf eine Mischung aus Werkstatt- und Kneipen-Atmosphäre mit Live-Risiko. Ein Moderatoren-Trio interviewte verschiedene Gäste an einzelnen Tischen, das Publikum gruppierte sich locker im Raum, Regiepult und Kameras waren sichtbar.
In der Sendung "stritt ein Hausbesetzer mit dem Wohnungsbauminister, ein Schaf pinkelte ins Studio, ein Kameramann ließ seine Kamera stehen, um mit Wienerwald-Chef Jahn zu diskutieren. Und die Redaktion kommentierte das Chaos in den ersten Jahren mit bissigen Untertiteleinblendungen", notierten Michael Reufsteck und Stefan Niggemeier in ihrem 2005 veröffentlichten "Fernsehlexikon". Zur Belohnung gab es 1976 für "3nach9" den Adolf-Grimme-Preis in Bronze.
Den Moderations-Anfang machte ein legendäres Trio: Wolfgang Menge, einer der bedeutendsten Fernseh-Autoren Deutschlands ("Stahlnetz", "Millionenspiel", "Ein Herz und eine Seele"), Gert von Paczensky, "Panorama"-Gründer, Chefredakteur von Radio Bremen und "ewig schlecht gelaunt" (di Lorenzo), sowie die Schauspielerin und Ärztin Marianne Koch, die der Show wie Wolfgang Menge bis 1982 treu blieb.
Koch ist auch am 15. November im Alter von 93 Jahren Gast der Jubiläumssendung. Ausnahmsweise wird aus dem Radio-Bremen-Funkhaus mal wieder live ab 22 Uhr gesendet und nicht ab 18 Uhr "live on tape" aufgezeichnet wie sonst. Außerdem sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Schauspielerin Iris Berben, Sängerin Sarah Connor, Schauspieler Joachim Meyerhoff und der 18-jährige Lasse Stolley zu Gast, der seinen festen Wohnsitz aufgegeben hat und nun in Zügen der Deutschen Bahn lebt. Die Show wird auch in den Dritten Programmen von HR und WDR gezeigt.
Frauen standen von Beginn an gleichberechtigt in der ersten "3nach9"-Reihe: Auf Marianne Koch folgten Carmen Thomas (1975-77), Lea Rosh (1982-89), Juliane Bartel (1989-98), Randi Crott (1989-91) und Amelie Fried (1998-2009). Die Berufung der "Feuchtgebiete"-Autorin Charlotte Roche löste 2009 Empörung im konservativen Bremer Lager aus, allerdings erwies sich die Zweier-Kombination aus "Der Schöne und das Biest" (Süddeutsche Zeitung) ohnehin als nicht sehr haltbar. Die Zeit für Experimente war offenbar vorbei: Roche hielt nur fünf Shows an der Seite von Giovanni di Lorenzo durch.
Das schönste Moderatoren-Paar, das es im deutschen Fernsehen gibt.
Nach 434 Sendungen sind dem heutigen "Zeit"-Chefredakteur di Lorenzo, inzwischen der dienstälteste Moderator von "3nach9" (seit Mai 1989), die Spuren der Zeit deutlich anzusehen. Über seine eigenen Moderationsjahre redet er nicht ohne Selbstkritik. Er erinnere sich "an die vielen Gespräche, die ich vergeigt habe". Seit 2010 harmoniert der 65-Jährige mit Judith Rakers, die bis Januar 2024 auch "Tagesschau"-Sprecherin war.
Nun sind beide "das schönste Moderatoren-Paar, das es im deutschen Fernsehen gibt", jedenfalls nach Ansicht von Schauspieler und "Tatort"-Kommissar Harald Krassnitzer, der neben anderen Prominenten eine Glückwunsch-Botschaft zur Jubiläumssendung "50 Jahre 3nach9 - Die Mutter aller Talkshows feiert Geburtstag", die am 15. November beim NDR gezeigt wird, beisteuert. Rakers und di Lorenzo lassen darin mit zahlreichen Archiv-Clips die vergangenen fünf Jahrzehnte Revue passieren. Am Klavier: Bendix Böttger, der Sohn des 2017 verstorbenen Pianisten und Filmkomponisten Gottfried Böttger, der im "3nach9"-Studio nicht nur vier Jahrzehnte lang für aufgeräumte Bar-Atmosphäre sorgte, sondern ab und zu auch mit prominenten Gästen zusammenspielte, von Udo Lindenberg bis Lang Lang.
Musik spielt seit 50 Jahren eine besondere Rolle: Bei "3nach9" hatte Amy Winehouse (2004) ihren ersten TV-Auftritt in Deutschland. Hinreißend auch das aus Peter Ustinov und Cecilia Bartoli bestehende Duett, das sich auf eine geräuschvoll improvisierte Fahrt im Fiat Cinquecento begab (2003). In der letzten Sendung am 18. Oktober gaben Max Mutzke (Gesang), Hannes Ringlstetter (Gitarre) und Jan Josef Liefers (Bass) ein Ständchen zu Ehren der 90-jährigen Nana Mouskouri. Natürlich stand ein großer Strauß weißer Rosen bereit.
Längst gehört der Freitag-Talk zu der Sorte Fernsehen, die das Risiko eher scheut und der Prominenz eine verlässliche Bühne baut. An einem mit Blumen geschmückten Tisch, bei Getränken und Snacks bieten sechs Gäste, die für ihr neues Buch, ihren neuen Film, neuen Song oder ihre neue Sendung werben wollen, ein Wohlfühlprogramm zum Wochenausklang. Manchmal reden sie sich noch um Kopf und Kragen, etwa Schauspieler Sky Du Mont, der 2023 derart unsachgemäß über Milchviehhalter herzog, dass empörte Landwirte vor der nächsten Sendung mit 100 Traktoren anrückten.
Man sagt in dieser Sendung Dinge, die man nicht unbedingt sagen wollte.
Aber dass die Gäste viel vorsichtiger geworden seien, bemerkte di Lorenzo schon vor fünf Jahren. "Umso mehr müssen sich Moderatoren abmühen, den Gästen etwas zu entlocken." Das größte Kompliment im Glückwunsch-Chor stammt daher von Kollegin Sandra Maischberger: "Man sagt in dieser Sendung Dinge, die man unbedingt nicht sagen wollte."
Es wird wohl nicht einfach sein, sich der charmanten Schmeicheleien des Moderatoren-Duos zu erwehren. Im besten Fall gelingt es di Lorenzo und Rakers, ein Thema zu finden, das ihre sechs Gäste miteinander ins Gespräch bringt und mehr als bloße Selbstbespiegelung bietet - wie zuletzt im Oktober, als ZDF-Moderator Rudi Cerne, Kabarettist Ringlstetter und Musiker Mutzke über ihre Kindheit und insbesondere das Verhältnis zu ihren Vätern sprachen. Vom Erinnern und dem Verhältnis der Generationen handelten letztlich auch die Interviews mit Liefers und Maischberger über die neuen Kinofilme "Alter weißer Mann" und "Riefenstahl". Niemand verspritzte Zaubertinte oder warf mit Gläsern, aber die aktuell große Sehnsucht nach Harmonie wurde bedient, ohne belanglos zu sein.
Die zwölf Ausgaben der in der Regel nur alle vier Wochen ausgestrahlten "3nach9"-Shows erreichten im Jahr 2023 im linearen Fernsehen bundesweit knapp eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer und lagen damit deutlich vor dem "Kölner Treff", dem "Riverboat" und dem "Nachtcafé". Die höchsten Einschaltquoten hatte die "NDR Talk Show" (1,2 Millionen), die freilich auch im Dritten Programm des Hessischen Rundfunks ausgestrahlt wird. Bei allen fünf Freitagabend-Programmen sind die Quoten in diesem Jahr bisher rückläufig.
In 50 Jahren "3nach9" wurden rund 4.000 Gäste begrüßt, darunter auch manche Politiker. Im März 2023 freute sich Judith Rakers in der 600. Sendung, dass sich das erste Mal "ein amtierender Bundeskanzler in so eine Runde setzt". Für Olaf Scholz wurde die Aufzeichnung der Sendung auf Donnerstag vorgezogen. Der Kanzler sprach über die Ampel und den Krieg, die Liebe zu seiner Frau und gemeinsames Kochen, aber so lustig wie 1975, als Gert von Paczensky mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl (CDU) plauderte, wurde es nicht. Als Kohls Hund noch gelebt habe, "soll er geknurrt haben, wenn die Namen von SPD-Politikern erwähnt wurden", sagte Paczensky damals. Kohl bestätigte unter dem Gelächter des Publikums, er sei halt ein kluger deutscher Schäferhund gewesen: "Er kann differenzieren." Darauf Paczensky trocken: "Deswegen überlebte er nicht lange." Auch damals flogen keine Gläser, vielmehr prosteten sich die Herren mit ihren Weingläsern zu.
Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Thomas Gehringer ist freier Journalist und Autor von epd medien.
Zuerst veröffentlicht 10.11.2024 10:20 Letzte Änderung: 12.11.2024 11:29
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Geschichte, Radio Bremen, Talkshows, Gehringer, BER, NEU
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