Spannende Deutschstunde - epd medien

11.11.2024 08:45

Im November 1989 wird der Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau in Sachsen tot aufgefunden. Die Mauer ist seit 24 Stunden offen. Im Hörspiel "Rabenkinder" nach dem Roman von Grit Poppe wird schnell klar, dass Kommissarin Beate Vogt es nicht mit einem klassischen Kriminalfall zu tun hat.

Der Jugendwerkhof Torgau 1978 - zwischen 1964 und 1989 wurden dort 4.046 Jugendliche eingewiesen

epd Eine graue Zelle, darin ein Mann, der tot an einem Baugerüst baumelt und die Frage: Selbstmord oder Mord? Das sieht nach einem klassischen Kriminalfall aus, zu dem die Leipziger Kommissarin Beate Vogt, einfühlsam gesprochen von Nina Gummich, gerufen wird. Wäre der Ort des Geschehens nicht der Jugendwerkhof Torgau. Wäre der Tote nicht dessen Direktor. Und wäre die Grenze zur BRD nicht gerade erst seit 24 Stunden offen.

In der Erinnerung verbindet man einen bestimmten Song mit dem Jahrhundertereignis am 9. November 1989: "Wind of Change" von den Scorpions. Es ist deshalb absolut stimmig, wenn die Rockballade mit ihrem ohrwurmtauglichen Pfeif-Intro vor allem den ersten Teil des beklemmenden Hörspiels leitmotivisch rhythmisiert. Dafür verantwortlich ist der Komponist Tommy Neuwirth, der sie immer wieder neu, immer wieder anders verzerrt und verfremdet arrangiert hat. Dazwischen dissonante Elektroklänge, Technobeats.

Glänzende Besetzung

Der NDR-Zweiteiler nach dem gleichnamigen Kriminalroman von Grit Poppe aus dem Jahr 2022 wurde jetzt zum 35. Jahrestag des Mauerfalls als Hörspiel inszeniert. Bedeutete damals "Wind of Change" einen Schub Richtung positive Zukunft, bläst er heute scharf als Gegenwind: Wie vereint sind Ost und West tatsächlich? Das Hörspiel fragt mit sarkastischem Unterton: "Deutschland, einig Vaterland?" Das ist der Fluchtpunkt der insgesamt 110 Minuten, bei denen es sich weniger um eine spannende Kriminalgeschichte als um eine spannende Deutschstunde handelt. Eine, die mit Thomas Thieme bis Lars Rudolph auch in den Nebenrollen glänzend besetzt ist.

Was heißt es, wenn sich ein Staat quasi über Nacht auflöst? Wenn also der Vorgesetzte von Beate Vogt, Oberleutnant Lehmann (Steffen C. Jürgens), erst alles daran setzt, die Ermittlungen zu blockieren, weshalb sie auch ein Jahr später noch nicht abgeschlossen sind, und dann den Dienst aufgrund seiner Stasi-Vergangenheit quittieren muss? Was bedeutet es weiter, wenn dann ein Ermittler aus dem Westen mit dem Fall betraut wird? Wenn also Beate Vogt den Münchner Hauptkommissar Josef Gruber vor die Nase gesetzt bekommt und das ausgerechnet am 2. Oktober 1990, einen Tag vor der deutschen Wiedervereinigung?

Ein Hof wie ein Gefängnis

Martin Feifel gibt diesen Gruber mit ausgeprägt bayerischem Dialekt, das heißt: als westdeutscher Fremdkörper. Die Idee, nach dem Unfalltod seiner Frau im Osten noch einmal von vorne anzufangen, findet er bald schon "idiotisch".

Zuletzt: Was wurde den rund 500.000 Betroffenen angetan, die als Kinder und Jugendliche wegen lapidarer Vergehen in den Heimen der DDR kaserniert waren mit dem Ziel, aus ihnen "sozialistische Persönlichkeiten" zu formen? Die berüchtigtste Einrichtung war Torgau, einst der einzige "geschlossene" Jugendwerkhof und heute Gedenkstätte. Mit seinen gewaltigen Mauern und abweisenden Gitterfenstern ähnelte der Hof einem Gefängnis.

Wahre Begebenheiten

Alles, was Beate Vogt und Josef Gruber nach und nach über die menschenverachtenden Methoden dort von der Erzieherin Hildegard Hellermann (Tilla Kratochwill), dem stellvertretenden Direktor Reinold Spieß (Stephan Grossmann) und vor allem den drei Jugendlichen Andreas, Tanja und Maik erfahren, basiert auf wahren Begebenheiten, ist genau recherchiert. Drei traumatisierte junge Menschen, eingesperrt, misshandelt und missbraucht - im Hörspiel die letzten Insassen. Sie werden von den Schauspielern Ingraban von Stolzmann, Runa Greiner und Oscar Hoppe authentisch jugendlich und fesselnd gesprochen.

Die kriminologisch entscheidende Frage, was sie mit dem Tod des Direktors zu tun haben, gerät dabei beinahe zur Nebensache. Nur soviel: Das bleibt bis zur überraschenden Auflösung am Ende ein Rätsel. Nicht zuletzt, weil allen drei Jugendlichen nach ihrer Vernehmung die Flucht gelingt.

infobox: "Rabenkinder - Tod im Jugendwerkhof", zweiteiliges Hörspiel, Regie: Anne Osterloh, Buch: Grit Poppe, Musik: Tommy Neuwirth (NDR Kultur, 27.10.24 und 3.11.24, jeweils 19.03-20.00 Uhr und seit 23.10.24 in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 11.11.2024 09:45 Letzte Änderung: 11.11.2024 10:09

Florian Welle

Schlagworte: Medien, Kritik, Radio, Radio.(Kritik), Hörspiel, KNDR, Osterloh, Poppe, Welle, NEU

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