12.11.2024 08:35
epd Es gibt Filme, die bringen es mit sich, dass die Zuschauerin das ein oder andere Mal tief durchatmen, vielleicht auch kurz pausieren muss. So schockierend und beschämend sind die Bilder, die man da sieht. Bilder von entkräfteten und geschundenen schwarzen Menschen, von Leichen, einfach liegen- und zurückgelassen, darunter Kinder und Frauen. Drastische Bilder, die die Botschaft des Filmes verdeutlichen sollen: Europa schottet sich ab - um jeden Preis.
Der Film zeichnet nach, wie Migranten in den kaum beachteten Wüsten-Gebieten zwischen Libyen und Tunesien sowie in Marokko und Mauretanien davon abgehalten werden, nach Europa zu gelangen. Er zeigt, wie sie in diesen Ländern diskriminiert und regelrecht gejagt werden, um sie zu internieren, in Arbeitslagern auszubeuten oder in der Wüste auszusetzen - ohne Essen und Trinken, ihrem Schicksal überlassen.
Möglich ist das, zeigt der Film, weil europäische Politiker, aber auch alle Europäer konsequent wegsehen. Die Europäische Union zahlt Hunderte Millionen von Euro an nordafrikanische Staaten, um die irreguläre Migration nach Europa zu unterbinden. Das ist das beschämende Moment, das lange nachhallt und diese Reportage so wichtig macht.
Philipp Grüll und Erik Häussler setzen in ihrem Film auf Kontrastierung: Hier die Geschichten der geflüchteten Menschen aus den Bürgerkriegsländern Sierra Leone oder Sudan, dort die thematische Einordnung im Off-Text oder in Experteninterviews. Die Dokumentation gibt den Menschen ein Gesicht, die sonst oft nur eine anonyme Zahl sind: Eine oder einer unter so vielen, die es nicht schaffen in das "Paradies Europa".
Da ist zum Beispiel Ada Steven Tarawallie, die, wie sie berichtet, geschlagen von der tunesischen Nationalgarde, ihr Kind im Bauch verloren hat. Dann Fati Dosso und ihre Tochter Marie, gerade einmal sechs Jahre alt, verdurstet in der Wüste, nachdem sie von Tunesiern ausgesetzt worden sein sollen - ihr Schicksal wurde im August 2023 weltweit bekannt. Bella und Idiatou, zwei Frauen aus Guinea sowie Musa Adep, Adam Ibrahim und Alwasilah Mohamed, junge Männer, deren Fluchtgeschichten die Filmemacher mittels Facebook rekonstruieren und ein Stück weit begleiten können.
Die Stärken des Films sind neben diesem persönlichen Zugang zum Thema die investigativen Recherchen. Denn die Reporter haben für ihren Film auch undercover, ohne Genehmigung in Libyen, Mauretanien und Marokko gefilmt. Sie weisen nach, dass europäische Regierungen, darunter auch Deutschland, um die Methoden wissen, die von den Ländern in Nordafrika angewandt werden, um Migranten davon abzuhalten, Europa zu erreichen.
Am Ende versucht sich der Film an konstruktiven Ansätzen. Das hätte es gar nicht gebraucht, suggeriert es doch, dass es eine einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem gäbe. Gerald Knaus, Migrationsforscher und Politikberater, schlägt Visafreiheit vor. Diese habe sich bewährt, weil sie legale Mobilität ermögliche. Ausgerechnet Knaus, der einst den umstrittenen Flüchtlingsdeal zwischen Deutschland und der Türkei miterdacht hat, fragt betroffen in die Kamera, ob Europa seine Werte aufgeben wolle.
Dagegen wirkt die Aussage von Manfred Weber, dem Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, ehrlich und zugleich zynisch: Es gebe keine Alternative zur Zusammenarbeit mit Tunesien. Er sagt offen, dass die Menschen an irgendeiner Grenze, ob im Mittelmeer oder in Nordafrika, daran gehindert werden müssten, weiterzukommen: "Und an der Stelle wird es auch ein Stück weit schwieriger im Umgang mit den Menschen." Übersetzt man diesen Politikersprech, heißt das, dass Europa Tote an seinen Grenzen in Kauf nimmt, gar dafür Bündnisse eingeht.
Immerhin: Weber ist der einzige verantwortliche Politiker, der sich vor der Kamera äußert. Auch hier wird wieder kontrastiert: Der Film endet mit Adam, der immer und immer wieder versucht, Europa zu erreichen. "Ich muss es versuchen", sagt er. Das Risiko, dabei zu sterben, hält ihn nicht davon ab.
Der Film ist eine Koproduktion von BR, NDR, der Deutschen Welle (DW) und einem internationalen Rechercheteam von Lighthouse Reports. Auch "Der Spiegel", "The Washington Post", "Le Monde" und "El País" waren an den Recherchen beteiligt. Die Dokumentation hat den Anspruch, viele Menschen zu erreichen. Neben der deutschen Version strahlt die DW sie deshalb auch auf Spanisch, Englisch und Arabisch aus, zudem ist sie auf Youtube zusätzlich auf Hindi verfügbar.
infobox: "Ausgesetzt in der Wüste - Europas tödliche Flüchtlingspolitik", Dokumentation, Regie und Buch: Philipp Grüll, Erik Häussler, Kamera: Osama Alfitori, José Bautista, Klaas van Dijken u.a., Produktion: Lighthouse Reports (ARD/BR/NDR/DW, 3.11.24, 23.05-23.50 Uhr, ARD-Mediathek und Youtube, seit 1.11.24)
Zuerst veröffentlicht 12.11.2024 09:35 Letzte Änderung: 13.11.2024 17:06
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation, KBR, KNDR, KDW, EU, Migration, Grüll, Häussler, Makowski, NEU
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