Wie die Welt in den Weltkrieg taumelt - epd medien

14.11.2024 08:36

Der Roman "Der Zauberberg", der vor 100 Jahren erschien, zeichnet ein Bild Europas vor dem Ersten Weltkrieg. Der Dokumentarfilm "'Der Zauberberg', Thomas Manns Jahrhundertroman" von André Schäfer sowie Hartmut Kasper und Beate Kasper beleuchtet nicht nur die Entstehungsgeschichte des Buchs, er zeigt auch, wie aktuell der Roman ist.

Der Roman "Der Zauberberg" führt in die verschneite Bergwelt um Davos

epd Vor hundert Jahren erschien Thomas Manns Roman "Der Zauberberg", eine Art Welttheater in der Enklave. Im übersichtlichen Maßstab eines Schweizer Lungensanatoriums bietet er ein Zeit- und Gesellschaftspanorama aus dem alten Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Inzwischen sind die damals üblichen, höchst vagen Tuberkulose-Therapien, die Liegekuren auf Terrassen in freier Bergluft, völlig veraltet. Längst sind Davoser Sanatorien Sporthotels geworden. Doch der Roman von Thomas Mann wirkt weiterhin faszinierend frisch. Ja, in André Schäfers Jubiläums-Dokumentation sagt Caren Heuer, die Leiterin des Lübecker Buddenbrook-Hauses, der "Zauberberg" sei "heute aktueller denn je".

Staunenswert ist im Roman jedenfalls der so seismographische wie prognostische Sinn des Autors für relevante Bewussteinslagen und politische Fragen, über die sich der menschenfreundliche italienische Humanist und Aufklärer Settembrini und der ideologisierte, systemgläubige Naphta streiten. Zugleich verbindet Mann hier Witz und Ernst, satirische Perspektiven und Sympathie für manche Hauptpersonen im Reigen der Patienten.

Dokument der europäischen Seelenverfassung

So schätzte Mann selbst, wie er 1939 in einer Rede für Studenten in Princeton erklärt, den "Zauberberg" besonders, und zwar als "Dokument der europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts". Und im Einklang damit können am Dokumentarfilm beteiligte Literaturkenner, darunter Volker Weidermann, Heinrich Detering und Kai Sina, sich noch darüber hinaus fragen, welche Figur des Romans ihnen besonders zusagt. Sina wählt die bildungswillige Hauptperson Hans Castorp, während Weidermann und Detering den profilierten Settembrini wählen: In dessen Ansichten spiegelt sich auch Thomas Manns Wendung von begeisterten nationalen Aufrufen im Ersten Weltkrieg zu liberaler Gesinnung und Demokratie.

Schäfers Film, nach einem Drehbuch von Hartmut und Beate Kasper, verschränkt drei Darstellungselemente meist souverän: Kommentare von Experten, historisches Film- und Archivmaterial, neugedrehte Filmsequenzen zu Davos und der verschneiten Bergwelt.

Tratsch, Träume, Traumata

Reizvoll sind besonders Fotos von 1912, als Thomas Mann seine dort sechs Monate weilende Frau Katia im Lungensanatorium besuchte und aus seinen Eindrücken und ihren Erzählungen erste Impulse zum Roman empfing, immer interessiert an Tratsch, Träumen und Traumata. Bilder der beiden jungen Manns sind so überraschend wie Katias lässige Äußerungen zu dem so folgenreichen Besuch: "So nett, dass man mal wieder reden kann."

Neue Kamerafahrten erkunden das beispielhafte historische Schatzalp-Hotel, das im "Zauberberg" vorschwebt, die langgestreckten Sonnen-Terrassen jedes Stockwerks, auf denen sich damals die Liegebetten dicht drängten, die dunklen Innengänge, den weiß bestückten Ess-Saal mit farbenfrohen Jugendstildekors an den Fenstern, die Gitterkonstruktion des Fahrstuhls, mit dem nachts die Toten möglichst unbemerkt nach draußen geschafft wurden. Kundiger Cicerone ist hier ein überlebender alter Schweizer aus der Spätphase des Sanatoriums, das sich nach der Entdeckung und Verordnung von Streptomycin und weiteren Antibiotika gegen Tuberkulose umstellen musste.

Keine nachhaltige Rettung

Höhepunkte des Dokumentarfilms sind die ausdrucksstarken Filmsequenzen zum Herzstück des Romans, dem Kapitel "Schnee". Kamerafahrten begleiten Hans Castorp beim einsamen Skifahren. Es ist ein Aufbruch in die wattierte Weite tiefen Schnees der abgehobenen Bergwelt. Als er sich im Schneerausch, mit dem Risiko zu erfrieren, schlaftrunken im unendlichen Weiß niederlässt, ereilt den Traumwandler die entrückteste Initiation in Tod und Liebe, in verbalen Schreckbildern von einem "mörderischem Blutmahl", die der Film mit Feuerwirbeln illustriert, und in einer Vision von paradiesischer Sympathie: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken", weiß Castorp bei seinem doppelgesichtigen Erkenntnisabenteuer, das er bald vergisst.

Wie unten im Ort zum Glück Settembrini ihn mit Kaffee erwärmt, zeigt der Dokumentarfilm nicht mehr. Das müssen vom Film faszinierte Zuschauer und Zuschauerinnen nachlesen. Diese Rettung ist gut, aber nicht nachhaltig. Hans Castorp verschlägt es am Ende des Romans in den Ersten Weltkrieg. "Wie taumelt eine Welt in den Weltkrieg? Das ist genau die Geschichte des 'Zauberbergs'", sagt Volker Weidermann zu Beginn des Dokumentarfilms.

infobox: "'Der Zauberberg', Thomas Manns Jahrhundertroman", Dokumentarfilm, Regie: André Schäfer, Tabea Sperl, Buch: Hartmut Kasper, Beate Kasper, Produktion: Filmgerberei, Florianfilm (Arte-Mediathek/SRF, seit 6.11.24, Arte, 13.11.24, 21.50-22.50 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 14.11.2024 09:36

Eva-Maria Lenz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, Dokumentarfilm, Mann, Literatur, Schäfer, Sperl, Kasper, Lenz

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