15.11.2024 11:45
Die Kulturwellen der ARD gleichen sich weiter aneinander an
epd Die Kulturwellen der ARD haben in diesem Jahr ihre Zusammenarbeit verstärkt und senden an vielen Abenden gemeinsame Programme. Doch Hörer und Hörerinnen finden in den Live-Programmen weiterhin eine enorme Bandbreite an Qualität - nicht nur bei den Konzertübertragungen, sondern auch in den Gesprächs- und Diskussionssendungen und in der Kulturberichterstattung im weitesten Sinne. Hört man die Wellen durch, bleibt ein zwiespältiger Eindruck.
Als positive Beispiele der Hörerfahrung der vergangenen Wochen sind zu nennen: das werktägliche Pop-, Kultur- und Politik-Magazin "Zündfunk" bei Bayern2, die konzentrierten und thematisch oft ungewöhnlichen Gesprächssendungen "Doppelkopf" bei HR2-Kultur und "Forum" bei SWR Kultur, das von Fachleuten moderierte "Klassik Forum" bei WDR3, die monothematische Sendung "Der Tag" bei HR2-Kultur, die diversen Sendungen von "WDR3 Open" bei WDR3, die Musikporträts von Bayern Klassik und die Musikstunde bei SWR Kultur.
Erwähnenswert ist auch die Lesung des neuen Romans von Nora Bossong, "Reichskanzlerplatz", bei HR2-Kultur. Und zu loben ist die Inszenierung des Hörspiels "Kein König in Israel" von Maxim Biller durch Dominik Graf bei SWR Kultur oder der die Hörspielgeschichte reflektierende Zweiteiler "Ein Leben im Ton" von Frank Witzel bei HR2-Kultur.
Auf der anderen Seite ist jedoch ein Annäherungsprozess der Kulturwellen untereinander zu registrieren, der das Gesamtangebot deutlich schmälert. Das ist für die Hörerin oder den Hörer, die der jeweiligen Kulturwelle ihrer Landesrundfunkanstalt treu bleiben, weniger leicht zu erkennen, als für die, die sich auf der Suche nach dem besonderen Angebot durch all diese Wellen durchschalten.
Drastisch ist die Veränderung am Abend bei den auf Klassischer Musik basierenden Programmen BR Klassik, HR2-Kultur, MDR KLASSIK, NDR Kultur, Radio 3 des RBB, SR2 Kulturradio, SWR Kultur, WDR3. Beginnend im April und verstärkt seit Herbst haben sie ihre Angebote ab 20.03 Uhr, also nach den jeweiligen Nachrichten, an drei Tagen synchronisiert: Montags, mittwochs und samstags senden alle dasselbe Konzert oder dieselbe Oper - als Aufzeichnung oder Live-Übertragung aus der Region des Senders, der an diesem Abend an der Reihe ist. Anschließend folgt auf diesen Wellen montags und mittwochs eine Sendung, die "ARD Jazz" genannt wird.
Damit reduziert sich die Anzahl der Konzerte, die von diesen Programmen bislang jährlich präsentiert wurden, beträchtlich. Folgen hat das weniger für die Hörerinnen und Hörer, von denen die wenigsten allabendlich die Klassikwellen nach einem ihnen gemäßen Konzertangebot abgesucht haben. Ihnen werden weiterhin exzellente Interpretationen des klassischen Repertoires auch mit internationalen Gästen präsentiert. Folgen hat diese gemeinsame Programmgestaltung vor allem für den Kulturbetrieb: Die Konzertveranstalter, Konzerthäuser, Opernbetriebe, die Musikerinnen und Musiker deren Veranstaltungen nun nicht mehr im Radio übertragen werden, werden Einnahmeverluste registrieren.
Diese finanziellen Folgen für die Musiksparte gälte es im nächsten Jahr möglichst präzise zu erfassen. Ebenso wäre zu untersuchen, ob sich das musikalische Angebot bei dieser Konzentration der Konzerte reduziert, also ob mehr von dem gespielt wird, was zu den Klassik-Hits zählt oder ob weiterhin das ganze Spektrum der Klassischen Musik iin den Konzerten abgebildet wird.
Auch die eher popkulturell orientierten Kultursender (Bayern2, Bremen Zwei, MDR Kultur) schalten sich seit dem Herbst abends zusammen. Von Montag bis Donnerstag strahlen sie von 21 Uhr bis 23 Uhr dieselben Musik-Sendungen aus, die unter der Überschrift "Late Nite Sounds" firmieren und deren Angebote vom Jazz über Soul bis zur Weltmusik reichen. Sie werden abwechselnd von den drei beteiligten Sendern produziert. Ab 23.03 Uhr übernehmen Bremen Zwei und MDR Kultur die Sendung "Nachtmix" von Bayern 2, ehe das gemeinsame Nachtkonzert beginnt, das schon seit vielen Jahren von allen Kultursendern der ARD übernommen wird.
Als die ARD im vergangenen November stolz die neue Zusammenarbeit verkündete, wies sie auf die damit verbundenen Einspareffekte hin. Die Sender müssen auch jenseits der Frage, ob der Rundfunkbeitrag nun erhöht wird oder nicht, sparen. Und die Kooperation der Sender untereinander ist ein Wunsch der Politik, der so auch explizit im neuen Reformstaatsvertrag zu finden ist, auf den sich die Ministerpräsidenten Ende Oktober geeinigt haben. Ob allerdings auch die außertariflichen Gehälter derjenigen, die den Kulturradios vorstehen, dem reduzierten Programm gemäß gekürzt wurden, dazu hat man nichts gehört. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass in den Chefetagen der Sender beim Stichwort "Sparen" zunächst an das Programm gedacht wird, dann an die freien Mitarbeiter, schließlich auch an die Redakteurstellen, aber zuletzt an die eigenen Positionen und Gehälter.
Was fällt beim Durchhören durch die Wellen weiter auf? Auch die Zahl der Kooperationen hat hörbar zugenommen. Als HR2-Kultur beispielsweise am 27. September ein Gespräch mit Dorothee Oberlinger ausstrahlte, in dem die weltbekannte Flötistin und Dirigentin über ihren musikalischen Werdegang und ihren Musikgeschmack Auskunft gab, wurde die Sendung als Ergebnis einer Kooperation mit Bayern Klassik ausgegeben. So schön dieses Gespräch der Reihe "Menschen und ihre Musik" war, das Tabea Dupree führte, es war nicht ungewöhnlich. Nur gut zwei Monate zuvor, am 6. Juli, war nämlich Dorothee Oberlinger zu Gast im "Klassik Forum" von WDR3 gewesen. Sie war an diesem Morgen knapp drei Stunden nicht nur für die Musikauswahl verantwortlich, sondern moderierte die Sendung auch alleine im Studio.
Das kann man wohl als eine Folge der Kooperation benennen: Am leichtesten können sich die nun zusammenarbeitenden Redaktionen auf prominente Namen, aktuelle Themen und populäre Ereignisse verständigen. Die Folge ist, dass immer weniger Menschen aus dem Kulturbetrieb immer häufiger in den Kulturradios zu hören sind. Das liegt auch daran, dass einzelne Wellen wie Bayern2, SWR Kultur und WDR3 im Lauf des Jahres eine Reihe von Sendungen abschafften, die eher auf das aufmerksam machten, was weniger bekannt ist.
Hinzu kommt eine Zentralisierung in der kulturellen Berichterstattung. Für große Veranstaltungen wie Festivals aller Art sind nunmehr die Sender zuständig, in deren Gebiet sie stattfinden. Die hier produzierten Beiträge können die anderen Sender übernehmen, sie sollen aber keine eigenen herstellen. Sicher, das spart Reisekosten und auch manche sinnlose Programmdopplung. Aber es reduziert eben auch die Zahl der Stimmen, die sich möglicherweise kritisch zu dem jeweiligen Ereignis zu Wort melden. Tendenziell sehen ja die Sender die kulturellen Ereignisse in ihren jeweiligen Sendegebieten weniger kritisch als die, die von außen auf die Veranstaltungen blicken.
Vor allem in den langen Musikstrecken der Kulturwellen am Vormittag wie am Nachmittag häufen sich mittlerweile Berichte, in denen regionale Kulturveranstaltungen angepriesen werden. Da gibt es keine kritische Nachfrage, auch nicht zum Sinn der jeweiligen Veranstaltung. Stattdessen wird die Bedeutung für die jeweilige Gegend herausgestrichen.
Kulturelle Regionalisierung steht in der Gefahr einer Provinzialisierung. Kein Wunder, sind diese Berichte doch oft Übernahmen von Wellen des jeweiligen Senders oder stammen aus den Regionalstudios. Die Übernahmen innerhalb der Sender wie zwischen den Kulturwellen fordern den einzelnen Beiträgen zudem eine gewisse Kompatibilität ab: Sie müssen in jede Welle und in jedes Format passen. Ungewöhnliche Stimmen und Herangehensweisen sind somit nicht erwünscht.
Wie aus den Sendern zu hören ist, sollen es weitere Zentralisierungen der Kulturwellen auch bei den Buch- und Filmbesprechungen geben. Ökonomisch mag es sinnvoll sein, statt mehrerer Rezensionen desselben Buchs nur noch eine oder zwei in der ARD herzustellen und die dann überall auszustrahlen. Intellektuell bedeutet das aber den Verlust an Stimmen und Positionen, denn Bücher und Filme werden von unterschiedlichen Kritikerinnen und Kritikern durchaus anders gesehen und gedeutet. Hier verstärkt sich die schleichende Entintellektualisierung des öffentlich-rechtlichen Radios, das einst in den 1950er und 1960er Jahren eine ganze Generation zur gesellschaftlichen und künstlerischen Reflexion angeregt hat.
Durch die Zentralisierung geht die Vielfalt von Kritik verloren. Es scheint so, als verständigte man sich so aus Gründen struktureller Plausibilität und Sparsamkeit auf eine Einheitsmeinung. Gerade die Vielfalt der Kritiken von Literatur und Film war früher eine Stärke des öffentlich-rechtlichen Feuilletons, das heute - wie auch bei den Tageszeitungen zu beobachten - zu einer Service-Agentur zu verkommen droht, die in denen, die zuhören, allein Konsumenten und eben nicht reflektierende Zeitgenossen erkennt. Ein dramatischer Verlust.
Mitverantwortlich für diese Entintellektualisierung ist auch die Tatsache, dass die Zahl gebauter Sendungen, die auf einem geschriebenen Text basieren, der professionell gelesen und mit Soundelementen gemischt wird, deutlich abgenommen hat. An ihre Stelle ist nun bei Bayern2 über weite Strecken am Tag und bei SWR Kultur nun auch in der besten Radiozeit am frühen Abend jenes Format getreten, das schon den Vormittag und den Nachmittag der Kulturwellen bestimmt: Ein Magazin, in dem sich unter Präsentation einer Moderatorin oder eines Moderators Wort und Musik abwechseln, ohne dass eines von beiden dominiert oder einen starken Nachklang hat.
Kein Wunder, dass auch in den Klassikprogrammen die Musikauswahl deutlich popularisiert wurde: bei Radio3 des RBB und bei WDR3 hat beispielsweise die Zahl der Filmmusik-Titel signifikant zugenommen.
In diesen Magazinen dominiert das meist im Plauderton geführte Gespräch, in dem mäßig informierte Moderatorinnen und Moderatoren Fachleute nach ihrer Einschätzung von etwas befragen. Auffallend auch, dass die, die hier die Fragen stellen, oft nicht genau auf das hören, was ihre Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner antworten, das beweisen peinliche Wiederholungen oder unpassende Anschlussfragen. Hier häufen sich dann Floskeln wie "absolut" oder schiefe Metaphern wie die, dass die Wahl in den USA "ein Rennen auf des Messers Schneide" sei (beide aus dem "Mosaik" von WDR3).
Möglicherweise sind die Moderatorinnen und Moderatoren auch dadurch abgelenkt, dass sie mittlerweile viele Funktionen ausfüllen müssen, die früher die Redaktion oder die Technik übernahmen. Der Plauderton mittlerer Freundlichkeit, der ja nicht auffallen und es allen recht machen möchte, hat vor allem in den langen Sendestrecken mittlerweile bei fast allen Kulturprogrammen Einzug gehalten. Vermutlich auch das Ergebnis einer zentralisierten Schulung von Stimme und Sprechhaltung. Dieser Tonfall verführt dazu, dass man nicht allzu genau hinhört. Alles läuft an einem vorbei, der zweite Satz einer Symphonie, der Cool Jazz der 1950er Jahre, ein Veranstaltungshinweis oder auch eine Buchkritik.
Noch werden in den einzelnen Rundfunkanstalten Hörspiele produziert, aber die Produktion wird in regelmäßigen Schaltungen der Redaktionen koordiniert und zugleich auf die bundesweit ausgerichtete ARD-Audiothek orientiert. Das gilt in noch größerem Ausmaß für die Lesungen der Belletristik, die einige Kulturwellen schon weitgehend in die Audiothek abgeschoben haben. Vor allem diese Online-Orientierung verändert das Hörspiel stärker als der Wechsel der Sendeplätze in den Kulturwellen in den letzten Jahren, bei dem sich besonders WDR3 misslich hervortat. Die Serialisierung der Stoffe scheint Vorrang zu haben. Die Mode der ebenfalls serialisierten Podcasts, die auf der ersten Seite der ARD-Audiothek (der sogenannten Stage) deutlich bevorzugt werden, zeigt hier Auswirkungen.
Zu welchen Absurditäten das führen kann, zeigt ein Beispiel vom 10. Oktober: Als an diesem Tag bekannt wurde, dass der Literatur-Nobelpreis an die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang ging, tauchte auf der Startseite der Audiothek der Hinweis auf das Hörspiel "Die Vegetarierin" auf, das Irene Schuck 2017 nach dem bekanntesten Roman der Autorin im Auftrag des NDR inszeniert hatte. Als NDR Kultur dann dieses Stück am 18. Oktober wiederholte, wurde das viel weniger prominent präsentiert.
Das zeigt den widersprüchlichen Charakter der Audiothek. Sie ist auf der einen Seite ein großes Archiv mit vielen Schätzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Aber diese Schätze sind nur schwer zugänglich. Die Wege etwa zu den Hörspielen jenseits der Krimis, die mittlerweile in drei unterschiedlichen Reihen gesammelt werden, sind kompliziert. Auf der anderen Seite ist es ein tagesaktuell vor allem auf Klickzahlen ausgerichtetes Portal. Die Audiothek-Macher, die den sogenannten Hero Content nach vorne stellen, setzen auf die gängigen Moden - derzeit vor allem "True Crime". Noch stärker als in den Kulturwellen kommt es auf die Popularität von Personen und Themen an.
Gleichzeitig spiegelt die Audiothek die Widersprüchlichkeit der ARD wider: Während die Kulturprogramme zur Kooperation animiert werden, bleibt ihr Erscheinen online äußerst widersprüchlich. Gibt man in der Suchmaschine der Audiothek das Stichwort "Hörspiel" ein, findet man Kacheln, unter denen mal die Angebote der einzelnen Sender oder Wellen, mal auch einzelne serielle Hörspiele erscheinen, aber eben bei weitem nicht alle.
Ein ähnliches Chaos herrscht, will man sich über das Angebot der Kulturwellen informieren. Jeder Sender hat ein eigenes Internet-Layout entwickelt und eigene Apps für die Wellen programmiert. Wer also etwas sucht, muss erst einmal ausprobieren, wo er den Livestream hören kann und wo er sich wie über das Tagesprogramm informieren kann. Auch bei den Auftritten der Sender gibt es keine Einheitlichkeit. Die Kulturwellen haben ihre oft unterschiedlichen Benennungen, Schreibweisen und Werbe-Claims beibehalten. Und während der Südwestrundfunk in diesem Jahr seine Kulturwelle von SWR2 in SWR Kultur umbenannte, heißt RBBKultur jetzt Radio3.
Die Begeisterung für die Audiothek in den Chefetagen der Sender ist dennoch verständlich. Denn diese liefert ihnen endlich verlässliche Zahlen der Nutzung, die es in der Messung der Radionutzung bislang kaum gab. Zu befürchten ist, dass die genau messbaren Abruf-Zahlen den Hörfunk so verändern werden wie die Fetischisierung der Einschaltquoten des Fernsehens ab den 1990er Jahren.
Copyright: KHM Darstellung: Autorenbox Text: Dietrich Leder war bis 2021 Professor für Fernsehkultur an der Kunsthochschule für Medien in Köln und ist Autor von epd medien.
Zuerst veröffentlicht 15.11.2024 12:45 Letzte Änderung: 15.11.2024 17:53
Schlagworte: Medien, ARD, Radio, Kultur, Kulturwellen, Leder, NEU
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