20.11.2024 09:13
epd Sie hatte getrunken? Gekifft sogar? Geflirtet? Stimmt es, dass sie sich als erste ausgezogen hat? Hatte sie nicht schon mal eine Affäre? Und handelt es sich hier nicht um eine ältere, in sexuellen Dingen erfahrene Frau, bei der ein Jüngling schon mal den Kopf verlieren kann? Oder ist das alles auf Neudeutsch gesagt Bullshit?
Diese Art von Bullshit entspricht allerdings der häufig praktizierten Täter-Opfer-Umkehr in Vergewaltigungsfällen. Tradierten Sichtweisen, die immer noch die Vorstellung der sexuell überaktiven "Sünderin" bemühen. Es sind Vorstellungen, die als vermeintliche Argumente in Vergewaltigungsprozessen benutzt werden. Narrative, die das Opfer unglaubwürdig machen und den Täter entlasten sollen.
"Sie wollte es doch auch." Das ist aus den Köpfen anscheinend schwer herauszubekommen. Genau wie die Annahme, dass Frauen "Ja" meinen, wenn sie "Nein" sagen. Diese Vorurteile wiegen umso schwerer, wenn sexualisierte Gewalt im Familien- und Freundeskreis beziehungsweise im sozialen Nahfeld stattfindet, was der Normalfall ist. "Nein heißt Nein", dieser Regelung folgt das 2016 geänderte Strafrecht.
Der Fernsehfilm "Bis zur Wahrheit" von und mit Maria Furtwängler, die hier ihre bisher eindrücklichste Rolle spielt, stellt die Verhältnisse von Anfang an klar: Es war eine Vergewaltigung, kein Zweifel. Zwar beginnt der Film mit einer Art hochnotpeinlicher Befragung Martinas (Furtwängler) durch eine Anwältin (Sarah Masuch), im Verlauf des Films stellt sich dies aber als Rollenspiel heraus, in dem die Frauen durchgehen, was Martina vor Gericht vom Anwalt der Gegenseite zu erwarten hat: Unglaubwürdig Machen, Erniedrigen, in den Dreck Ziehen, Verunsichern.
Wasserdichte Beweise gibt es nicht, das macht die Lage vor Gericht aussichtslos. Martina, brillante Neurochirurgin, gestandene Frau von außerordentlicher Intelligenz, mit komfortablem Leben, eins mit sich und ihrem Körper, hat verstanden. Juristische Aufarbeitung, mögliche erneute Viktimisierung vor Gericht? Das will sie nicht. Sie will Kontrolle zurück. Sie versteht, dass sie, um das zu erreichen, für sich auf andere Weise prozessieren muss. Und das tut sie, um den Preis der Selbstentblößung.
Man kann die Figurenzeichnung durch Autorin Lena Fakler als etwas holzschnittartig empfinden. Es geht um Fallhöhe. Darum, dass Martina dem Täter eigentlich in allem überlegen ist: Lebenserfahrung, emotionale Reife, sozialer Status, Freundschaftsfähigkeit, Berufserfolg, Einkommen. Doch das zählt nichts, als der Täter sie festhält und sie penetriert, obwohl sie mehrfach deutlich "Nein" sagt. Denn er ist ihr körperlich überlegen und erzogen in Strukturen, die von Männern erwarten, dass sie sich "durchsetzen" und Frauen auch mal "nehmen".
Neben der Star-Chirurgin mit Künstler-Mann Andi (Pasquale Aleardi) und toller Tochter Lina (Luna Winter) wirkt die befreundete Familie, aus der der Täter kommt, etwas unscharf und nicht ganz überzeugend: Martinas beste Freundin Jutta (Margarita Broich) und ihr Mann Torsten (Uwe Preuss) bilden in gewisser Weise das familiäre Gegenmodell. Jutta ist eine stets ausgleichende, immer verständnisvolle sanfte Person, er gibt den unbeherrschten Familienvorstand. Ihr Sohn Mischa (Damian Hardung), nach zweijähriger Abwesenheit aus den USA zurückgekehrt, hat es da nicht leicht, so scheint es, sein männliches Selbstbild zu finden.
Die Handlung ist weitgehend chronologisch erzählt, die Vergewaltigung spielt sich vor den Augen der Zuschauer ab. Die Darstellung freilich ist sensibel und nicht voyeuristisch von Regisseurin Saralisa Volm und der Kamera von Roland Stuprich in Szene gesetzt. Kein "Male Gaze" (männlicher Blick) bestimmt die Vergewaltigungsszene, man sieht deutlich, dass mit Intimitätskoordinatorinnen gearbeitet wurde.
Am entscheidenden Abend im Ferienhaus in der Nähe von Lübeck sind die Zuschauer dabei. Mischa schwimmt im Swimmingpool, Wasser wird immer wieder als Element der Entgrenzung (mal bedrohlich, mal entspannend) gezeigt, die anderen fahren ins Kino, Martina bleibt mit Mischa zurück, sie sprechen, flirten ein bisschen, trinken. Später kiffen beide bei einer Strandparty, sie springt zu seinem Erstaunen übers offene Lagerfeuer. Er scheint fasziniert von ihrer inneren Freiheit. Zurück am Pool zieht sie ihr Kleid aus (unter dem sie einen Bikini trägt), will ihm Kraulunterricht geben. Er küsst sie, kurz erwidert sie, dann sagt sie deutlich "Nein". Mehrfach. Er vergewaltigt sie. Weil er dachte, dass sie sich bloß ziert, weil er der Sohn ihrer Freundin ist?
In dem Film geht es um die Folgen für Martina und auch für Mischa. Es gelingt ihr nicht, zum Alltag überzugehen. Vergessen ist keine Option, Kontrollverluste häufen sich. Erst erfährt es ihr Mann Andi, der wiederum konfrontiert Freund Torsten, der eine Unterlassungsaufforderung schickt und Martina als "Schlampe" tituliert.
Dass Martina zum Schluss des Films auf Selbstermächtigung setzt, mag man als Selbstjustiz kritisieren. Doch es geht um anderes. Es geht um ihre Zukunft als Person, die zu einem speziellen Opfer-Täter-Ausgleich führt. Es geht auch um gängige Vorurteile gegenüber sexuell aktiven Frauen, um das Kleinmachen erfolgreicher Frauen.
Der Film macht vieles richtig, manchmal ist er vielleicht zu klug in seiner Absicht aufzuklären. Furtwängler und Hardung machen das wett. Auch Damian Hardungs Mischa ist ein Mensch mit Facetten, vor allem freilich ist er ein verunsichertes Produkt einer rollenzementierenden Erziehung. Ein sehenswerter Film. Ein Denkanstoß, der zum Diskutieren anregt.
infobox: "Bis zur Wahrheit", Fernsehfilm, Regie: Saralisa Volm, Buch: Lena Fakler, Kamera: Roland Stuprich, Produktion: Nordfilm, Atalante Film (ARD/NDR, 20.11.24, 20.15-21.45 Uhr, ARD-Mediathek, ab 20.11.24)
Zuerst veröffentlicht 20.11.2024 10:13
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Hupertz
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