26.11.2024 09:00
epd Einst bestieg sie Berge, nun liegt sie überwiegend im Bett. Die Physiotherapeutin Martina leidet an ME/CFS, einem diffusen chronischen Erschöpfungssyndrom, das als schwerste Form von Long Covid gilt. Es ist nicht das erste Mal, dass Eckart von Hirschhausen diese Frau trifft. Vor drei Jahren schon hat er ihr Leid in "Corona ohne Ende" erwähnt. In der neuen Reportage, der inzwischen sechsten seiner Corona-Reihe, trifft er sie wieder. Denn so wie Martina ergeht es vielen. In Deutschland wird geschätzt, dass mehr als 250.000 Menschen am chronischen Fatigue-Syndrom und ähnlichen Erkrankungen leiden. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Hirschhausens Reportage "Der lange Schatten von Corona" wirft erneut die Frage auf, warum diesen Patienten von offiziellen Stellen kaum geholfen wird. Der Medziner zeigt glaubhafte Empathie für diese leidenden Menschen. Warum aber wird bei Martina nicht einmal ihre Berufsunfähigkeit offiziell anerkannt? Warum sind diese Menschen oft ganz auf sich allein gestellt? Warum kann oder will man ihnen nicht helfen? Es würden zu wenig Forschungsgelder zu Verfügung gestellt, erklärt eine Ärztin. Erschöpfend ist diese Antwort nicht. Möglicherweise erfährt man in der nächsten Folge dieser Dokureihe mehr.
Hoffnung erweckt die bereits in einer früheren Corona-Reportage von Hirschhausen vorgestellte "Blutwäsche"-Therapie, die auch nun wieder ausführlich erwähnt wird. Auf "tagesschau.de" wurde Hirschhausen dafür deutlich kritisiert. Er bringe verzweifelte Patienten möglicherweise dazu, viel Geld in die Hand zu nehmen, um sich der medizinisch umstrittenen "Blutwäsche" zu unterziehen, die von Fachleuten gar als "Unsinn" kritisiert wurde. Auf diese Kritik geht Hirschhausen ein, lässt aber die Kritiker selbst nicht zu Wort kommen. Er erwähnt auch, dass Diana, die Patientin, die er vorstellt, die Kosten für die Behandlung selbst trägt, sagt aber nicht, was die Behandlung kostet.
Relevant ist die neue Reportage dennoch. In früheren Episoden hat Hirschhausen sich explizit für den Nutzen der Corona-Impfung starkgemacht. In "Hirschhausen als Impf-Proband" (2021) hat er sich sogar als Versuchskaninchen für den neuen Impfstoff zur Verfügung gestellt. Von dieser Agenda ist er nicht abgewichen. Dennoch verstärkt sich im aktuellen Beitrag die Tendenz zu einer Erweiterung der Perspektive: "Müssen wir Nutzen und Risiken (der Corona-Impfung) aus heutiger Sicht neu bewerten?" fragte er bereits in seiner Reportage "Was von Corona übrig bleibt" (Kritik in epd 25/23).
In "Der lange Schatten von Corona" dokumentiert Hirschhausen den Fall von Luis, der "täglich einen schmerzhaften Herzanfall" erleidet. Die Kamera hält drauf, diese Bilder kann man kaum ertragen. Leidet der junge Mann tatsächlich an Post-Vac, also einem Corona-Impfschaden? Der Film führt vor Augen, wie heftig in diesem Punkt der Kampf um die wissenschaftliche Deutungshoheit ausgefochten wird. In einem eingeblendeten Dokument des Versorgungsamtes heißt es, Luis' Herzrasen (Tachykardie) sei ein Symptom von Long-Covid, also kein Impfschaden. Hirschhausen springt dem jungen Mann bei. Herzrasen, so dokumentiert er, wird auch unter den Nebenwirkungen von Covid-Impfungen aufgelistet.
"Es war falsch", sagte Hirschhausen in einem Interview, "eine komplett nebenwirkungsfreie Impfung zu versprechen. Alles, was wirkt, hat Nebenwirkungen." Nun interessiert er sich für jene 0,02 Prozent der Geimpften, die das betrifft. Er spricht unter anderem mit der Kabarettistin Christine Prayon, die nach einer Covid-Impfung schwere Symptome entwickelt hat. Auf einer von ihr mit initiierten Solidaritätsveranstaltung von Impfgeschädigten auf dem Prenzlauer Berg wird Hirschhausen allerdings nicht mit Applaus empfangen.
In seinem Film richtet der Mediziner den Fokus auch auf weitere Nebenwirkungen der Pandemie. Er trifft den heute 18-jährigen Karl, der wie viele Jugendliche besonders unter dem (zweiten) Lockdown litt. Essstörungen Panikattacken und Ängste haben seither massiv zugenommen, besonders unter jungen Menschen, die "auf Party und Pubertät" verzichten mussten. Vor der Kamera erklärt Karl, er war so weit, sich "einen Strick" zu nehmen.
Wie kann man so etwas künftig verhindern? "Wir sollten", so der ausführlich zu Wort kommende Tobias Renner, ärztlicher Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Tübingen, "mit aller Macht vermeiden, Schulen oder Kindergärten zu schließen". Diese Auffassung vertritt der Film selbst nicht ausdrücklich. Aber er schaut differenziert auf die Maßnahmen und ihre Folgen. Die Pandemie, so das Fazit, ist noch nicht vorbei. Mit dem Blick zurück beginnt die Aufarbeitung.
infobox: "Hirschhausen und der lange Schatten von Corona", Reportage mit Eckart von Hirschhausen, Regie und Buch: Kristin Siebert, Kamera: Jonny Müller-Goldenstedt, Tom Bergsteiner, Patrick Brandt u. a., Produktion: Bilderfest (ARD/WDR, 18.11.24, 20.15-21.00 Uhr, ARD-Mediathek, seit 16.11.24)
Zuerst veröffentlicht 26.11.2024 10:00
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Reportage, Hirschhausen, Riepe, Siebert
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