27.11.2024 10:56
epd Gefühlt erlebt die christliche Mystik im Hörbuch und Hörspiel gerade einen kleinen Höhenflug. Es ist noch gar nicht so lange her, da erzählte der Literaturwissenschaftler und Philosoph Alois M. Haas "eine persönliche Geschichte der Mystik" (Supposé). Im vergangenen Jahr las Cordula Trantow den biografischen Roman von Sonja A. Buholzer "Solange du liebst - Botschaften einer Rebellin" über das bewegte Leben der Mechthild von Magdeburg ein (hörkultur). Und nun das Hörspiel von Ruth Johanna Benrath "Zugluft im Weltgefüge". Darin tritt die Autorin und Lyrikerin in einen Dialog mit dem Görlitzer Schuster Jacob Böhme, dessen Todestag sich im November zum 400. Mal jährte.
Mit der Aufnahme knüpft Benrath an ihr Hörstück "PSALM/aus der tieffen" an, in dem sie sich mit Martin Luther auseinandergesetzt hat. Die Frage, was der Reformator uns heute noch zu sagen hat, stellt sie auch an den bedeutenden protestantischen Mystiker Jacob Böhme, der 1624 im Alter von 49 Jahren in Görlitz gestorben ist. Beide Hörspiele wurden vom MDR produziert, in beiden führte Stefan Kanis Regie, und hier wie dort war Birte Schnöink als Sprecherin beteiligt.
In "Zugluft im Weltgefüge" stehen ihr die junge Schauspielerin Carolin Wege und die gestandene Regina Lemnitz zur Seite. Drei Frauen, drei Generationen. Jens Harzer fiel die Aufgabe zu, Böhmes Einsichten, die er vor allem in seinem Hauptwerk "Aurora oder Morgenröte im Aufgang" aus dem Jahr 1612 niedergelegt hat, zu lesen. Die richtige Wahl! Der Träger des Iffland-Rings ist ein Suchender, der mit seiner unverwechselbaren Stimme einen Text erst im langsam herantastenden Sprechen entstehen lässt und so durchdringt. Harzers Wortsensibilität kommt der Gedankenschwere Jacob Böhmes entgegen.
Das Renaissance-Deutsch, das vor 400 Jahren gesprochen wurde, klingt für unsere Ohren fremd. Fremd, aber gerade deshalb mitunter aufregend und schön. Genau wie die Töne, die der klassische Musiker, der US-Amerikaner Nathan Bontrager, seiner Viola da Gamba wie seiner Schlüsselfidel entlockt.
Hermann Hesse erkannte vielleicht am besten den Kern, als er über Jacob Böhme schrieb: "Er ist nicht nur schwer zu lesen, so wie etwa Kant in vielen Kapiteln schwer zu lesen ist. Er ist überhaupt nicht zu lesen, wenn die Einstellung fehlt." Übertragen auf das Hörspiel heißt das: Hörer und Hörerinnen ohne eine grundsätzliche Offenheit gegenüber philosophischen und religiösen Fragestellungen dürften schnell aufgeben. Man muss Lust haben und die Muße aufbringen, sich auf "Zugluft im Weltgefüge" einzulassen. Ohne hoffentlich in jene Betrübnis zu fallen, die Böhme ereilte, als er über Gott und die Welt grübelte.
Darüber "bin ich endlich gar in eine harte Melancholei und Traurigkeit geraten, als ich anschauete die große Tiefe dieser Welt ... und betrachtete in meinem Geiste die ganze Schöpfung dieser Welt. Dazu betrachtete ich das kleine Fünklein des Menschen, was er doch gegen diesem großen Werke Himmels und Erden vor Gott möchte geachtet sein." Mit diesen Sätzen aus dem 19. Kapitel der "Morgenröte", von Harzer in ruhigem Ton vorgetragen, beginnt das Hörspiel. Es schließt sich Biografisches an. Vor allem aber viele existenzielle Fragen, die Böhme umtrieben: Wie kann man sich den Beginn des Universums vorstellen? Was ist die Seele? Was Gott? Schließlich: Warum existiert das Böse, warum hat "Gott ein peinlich leidend Leben" geschaffen?
Da ist sie, die bohrende Theodizee-Frage. Dazwischen geschnitten immer wieder die Stimmen des Frauen-Trios, das Böhmes Denken ins Hier und Heute verlängert und insistiert: "Erklär mir das!" Oder: "Wie kann man mit dieser Vorstellung leben?" Oder: "Was ist schiefgelaufen im Garten Eden?"
Sowohl die von Jacob Böhme aufgeworfenen als auch die sich daran anschließenden Fragen von Ruth Johanna Benrath richten sich an uns, die Hörer. Angesichts der heutigen Polykrisen, auf die immer wieder indirekt angespielt wird, umso eindringlicher. Antworten liefert Benrath nicht. Sie stellt höchstens den Fragen die Wunder der Poesie entgegen. Spracharbeit ist ein Schöpfungsakt. "Mit einem grobzinkigen Kamm die Mähne eines Riesenpferdes striegeln und lauter Rehe herausrieseln lassen. Rehe mit Wiesen. Das nenne ich Schöpfung, aber das sage ich nicht laut", heißt es einmal. Der Schluss gehört wieder Böhme. Auch für ihn liegt es am Einzelnen, was er aus seinem Leben macht: "Machen wir einen Engel aus uns, so sind wir das. Machen wir einen Teufel aus uns, so sind wir das auch."
infobox: "Zugluft im Weltgefüge. Ein Dialog mit Jacob Böhme", Hörspiel, Regie: Stefan Kanis, Buch: Ruth Johanna Benrath, Komposition: Janko Hanushevsky (MDR Kultur, 11.11.24, 20.00-21.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 27.11.2024 11:56
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), Hörspiel, Kanis, Benrath, Welle
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