29.11.2024 08:00
Ein epd-Interview mit Roger de Weck
Sie haben den Reformstaatsvertrag, auf den sich die Ministerpräsidenten im Oktober geeinigt haben, als größte Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland seit Gründung des ZDF bezeichnet. Meinen Sie das ernst?
Roger de Weck: Ganz und gar ernst. Wobei selbst eine große Reform noch immer zu klein sein kann.
Warum ist es Ihrer Meinung nach eine große Reform?
Es war nicht damit zu rechnen, dass sich 16 Bundesländer auf so weitgehende Schritte einigen. Das heißt, politisch haben sie mehr als das Mögliche, nämlich das fast Unmögliche erreicht. Angesichts der Herausforderungen wären natürlich Sieben-Meilen-Schritte zweckmäßig. Die lagen politisch nicht drin.
Was meinen Sie damit?
Warten wir ab, ob sich die Länder auf ein neues Finanzierungsmodell einigen. Anfangs stimmten die Signale optimistisch, der Optimist Roger de Weck hat das gern wahrgenommen. Zur Unzeit kam nun allerdings der Beschluss von ARD und ZDF, mitten im Meinungsbildungsprozess der Rundfunkkommission Klage beim Bundesverfassungsgericht einzureichen, um die von der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) empfohlene Beitragserhöhung durchzusetzen. Das kostete Goodwill.
Dennoch bleiben Sie zuversichtlich?
Die Ministerpräsidentenkonferenz hat eine Reihe zukunftsweisender Entscheidungen getroffen. Sie will den Auftrag im Sinne eines wirksameren Diensts an Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft schärfen. Das hatte der Zukunftsrat empfohlen. Zweitens will sie einen Medienrat einrichten, der prüfen soll, inwiefern der Auftrag erfüllt wird. Das entspricht ebenfalls unseren Empfehlungen. Die Länder schlagen vor, diesen Medienrat vornehmlich aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk heraus zu bilden.
Politik hat meistens Erfolg, wenn sie einen Schritt nach dem anderen tut.
Aber zwei von sechs Medienräten will die Politik selbst benennen, die anderen vier sollen von den Gremien der Öffentlich-Rechtlichen benannt werden.
De Weck: Die Anstalten berufen die Mehrheit der Mitglieder, das sichert die Unabhängigkeit. Drittens sieht der Reformstaatsvertrag eine Tochtergesellschaft von ARD, ZDF und Deutschlandradio für eine gemeinsame Multimedia-Technologie vor. Auch das befürwortete der Zukunftsrat. Zudem wird ein Zwischenschritt getan im Hinblick auf eine effizientere ARD. Es ist zwar nicht die schlanke "Holding" an der ARD-Spitze, an die wir dachten: Diese Holding hätte unter anderem die Arbeitsteilung unter den neun ARD-Anstalten zu organisieren und die Harmonisierung der disparaten Technik durchzusetzen. Soweit aber wollte die Ministerpräsidentenkonferenz nicht gehen. Das hat mich nicht überrascht, denn der Wechsel von der bloßen Koordination zur Organisation muss reifen. Politik hat meistens Erfolg, wenn sie einen Schritt nach dem anderen tut. Immerhin soll es für jede wichtige Aufgabe eine federführende ARD-Anstalt geben.
Sind Sie der Meinung, dass dieses Federführungsprinzip die ARD tatsächlich strategiefähiger macht?
Auf den Gemeinsinn der Intendantinnen und Intendanten wird es ankommen. Es wird sich weisen, ob sich die jeweils federführende Anstalt behauptet gegen die acht anderen.
Wenn die ARD kaum an Effizienz zulegt, wird die Politik wesentlich größere Reformschritte fordern.
Bisher hat man den Eindruck, dass meist die finanzstärksten Anstalten versuchen, die ARD zu dominieren und sich durchzusetzen mit ihren Strategien oder ihren Vorhaben. Wird das durch dieses Federführungsprinzip nicht eher verstärkt?
Das ist die begreifliche Sorge kleiner Anstalten. Jetzt muss sich zeigen, ob alle in der ARD das neue Spiel spielen. Mancher Intendant wollte auf keinen Fall eine zentrale Instanz. Das lehnten auch manche Länder ab. Bayern kann sich schwerlich vorstellen, dass ein Außenstehender beim Bayerischen Rundfunk mitspricht. Doch wenn die Anstalten das Federführungsprinzip aushebeln, keine Nägel mit Köpfen machen und die ARD kaum an Effizienz zulegt, dann wird die Politik - oder auch das Bundesverfassungsgericht - unweigerlich in drei bis fünf Jahren wesentlich größere Reformschritte fordern.
Sie haben die Frage der Finanzierung angesprochen. Es war eigentlich geplant, ein Modell zu etablieren, das die Debatte um den Rundfunkbeitrag entpolitisiert. Die Überlegung ist, den Ministerpräsidenten die Möglichkeit zu geben, den Rundfunkbeitrag per Verordnung festzusetzen, wenn die Erhöhung unterhalb eines bestimmten Limits bleibt. Bisher konnte dieses Modell nicht durchgesetzt werden, es scheint da starken Widerstand zu geben bei einigen Ministerpräsidenten. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass die Länder sich doch noch einigen auf ein Verordnungsmodell?
Es ist ja eine journalistische Tugend, auch mal zu sagen: Ich weiß es nicht. In meinem Berufsleben lag ich mit allzu kurzfristigen Voraussagen allzu oft daneben.
Es wurde zu viel über Fernsehkanäle und Hörfunksender diskutiert, zu wenig über Strukturreformen.
Sie haben gesagt: Es geht darum, dass ARD und ZDF sparen. Einige Ministerpräsidenten hatten sich schon zu Beginn der Diskussion um den Reformstaatsvertrag festgelegt und gesagt: Wir werden keinesfalls einer Erhöhung des Rundfunkbeitrags zustimmen. Halten Sie dieses politische Vorgehen für richtig?
Als Mitglied des Zukunftsrats - oder des ehemaligen Zukunftsrats - ist es nicht mein Ding, die Tagespolitik zu kommentieren. Ich bin neugierig auf das künftige Finanzierungsmodell. Meine persönliche Meinung: Nach den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz wurde zu viel über Fernsehkanäle und Hörfunksender diskutiert, zu wenig über Strukturreformen. Der Abbau von Kanälen löst keine Strukturprobleme und bringt wenig Geld. Ohnehin: Ausschlaggebend ist in Zukunft das Onlineangebot, nicht die Zahl der Kanäle.
Meinem Eindruck nach ist der Medienstaatsvertrag, was das Onlineangebot angeht, widersprüchlich: Einerseits gibt er den Anstalten auf, digitaler zu werden, sie sollen sogar eine "Public Open Space Plattform" starten, aber andererseits wird der schwer zu definierende Begriff der Presseähnlichkeit noch enger ausgelegt, die Anstalten sollen weniger und kürzere Textangebote machen.
Da bleibe ich pragmatisch. Ähnliche Beschränkungen hatte ich als Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Aber wer Nachrichtensender betreibt, hat immer einen Sendungsbezug. Die Einschränkungen sehe ich eher als eine potenzielle Stärkung der Öffentlich-Rechtlichen: Es lädt sie ein, an einem noch engeren Zusammenspiel von Bild und Text beziehungsweise Ton und Text zu arbeiten. Das kann im audiovisuellen Zeitalter zu einem Trumpf werden.
Es wäre eine wunderbare Sache, Arte zum gesamteuropäischen Kulturanbieter auszubauen.
Der Zukunftsrat hat im Januar seinen Bericht vorgelegt und geschrieben, es geht nicht darum, das Angebot zu reduzieren. Sie sagen, es ist zu viel über Kanäle diskutiert worden und zu wenig über neue Angebote. Mir ist in der Diskussion um den Reformstaatsvertrag aufgefallen, dass ARD und ZDF sich heftig gegen Einsparungen bei den Sportrechten gewehrt haben. Zugleich stand auch die Einstellung des Kultursenders 3sat im Raum, dazu habe ich aber von ARD und ZDF sehr wenig Protest vernommen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Auf dem Papier wäre es eine wunderbare Sache, Arte zum gesamteuropäischen Kulturanbieter auszubauen und dabei das Angebot von 3sat einzubringen. Allerdings wäre das keine Sparübung, sondern eine Investition von Hunderten Millionen Euro. Solange rundum in Europa die Bereitschaft zu diesem Quantensprung fehlt, solange bleibt 3sat als einziger gemeinsamer Anbieter der deutschsprachigen Länder wertvoll. Übrigens haben Frankreich, Belgien, die Schweiz und Kanada in Gestalt von TV5 Monde einen gemeinsamen frankophonen Kanal, der auch in Westafrika beliebt ist. TV5 Monde erreicht 360 Millionen Haushalte und 120 Millionen Handy-Nutzer, insgesamt eine Milliarde Menschen.
Ich glaube, es fehlt nicht nur an der Bereitschaft der Staaten, mehr in einen europäischen Kulturkanal zu investieren, ich habe den Eindruck, dass auch bei ARD und ZDF die Bereitschaft, mehr in Kultur zu investieren, nicht so groß ist wie die Bereitschaft, in Sport zu investieren.
Sport bleibt wichtig. Sport ist nach wie vor Lagerfeuer. Sport ist Kanal-Fernsehen. Soweit ich es überblicke, müssen die Anstalten beim Sport nicht sparen. Ich fürchte aber, dass die Diskussion über Sportrechte eines Tages irrelevant wird, weil Apple und andere globale Plattformen ins Sportgeschäft einsteigen. Da könnten nicht nur die Öffentlich-Rechtlichen, sondern mittelfristig auch private Kanäle und Telekomanbieter den Kürzeren ziehen.
Es ist nützlich, dass sich der Medienrat öffentlich äußert.
Aber die Übertragung von Sportveranstaltungen ist etwas, das auch die Privatsender gut machen können. Ist das noch der Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags?
Ich teile keineswegs die unterschwellige Definition, wonach alles, was das breiteste Publikum interessiert, nicht öffentlich-rechtlich sei. Allerdings betont der Reformstaatsvertrag zu Recht, dass auch Sportarten gepflegt werden sollen, die nicht im Mittelpunkt stehen. Als Generaldirektor in der Schweiz habe ich bewusst den vier Hallensportarten Handball, Basketball, Volleyball und Unihockey eine hohe Visibilität verliehen. Das hat für die Akzeptanz des öffentlichen Medienhauses einiges bewirkt.
Welche Rolle kann der künftige Medienrat spielen, der mit dem Reformstaatsvertrag eingeführt werden soll? Im Gesetz steht, er soll alle zwei Jahre einen Bericht zur Qualität der Angebote von ARD, ZDF und Deutschlandradio vorlegen.
Da mag es auf das Kleingedruckte ankommen. Ein effizienter Medienrat nimmt sich vermutlich die Freiheit, öfter als bloß alle zwei Jahre seine Stimme zu erheben. Denn sonst ist für die folgenden zwei Jahre vieles bereits aufgegleist. Überdies ist nützlich, dass sich der Medienrat öffentlich äußert und nicht bloß intern.
Wird Kultur vernachlässigt, steht der Medienrat in der Pflicht, sich zu Wort zu melden.
Im Reformstaatsvertrag wird bei der Beschreibung der Aufgaben des Medienrats sehr viel Quantifizierbares aufgelistet. Er soll die Abrufzahlen und Quoten prüfen. Aber die Auftragserfüllung ist in meinen Augen schwer quantifizierbar. Es ist auch die Rede davon, dass gemessen werden soll, welche Rolle der öffentlich-rechtliche Rundfunk im öffentlichen Diskurs spielt als Medium und Faktor. Was ich vermisst habe, ist zu überwachen, welche Rolle er als Medium und Faktor für die Kultur spielen soll.
Die Kommunikationswissenschaft hat durchaus geeignete Messgrößen entwickelt. Kultur ist ein Kernelement des Auftrags an die Öffentlich-Rechtlichen. Wird sie vernachlässigt, steht der Medienrat gewiss in der Pflicht, sich zu Wort zu melden. Wo private Medien - mit Ausnahmen wie die "Frankfurter Allgemeine", die "Süddeutschen" oder die "Zeit" - das Kulturleben je länger, desto weniger abbilden, wird die Rolle der Öffentlich-Rechtlichen noch wichtiger.
Falls ARD und ZDF den Ball wegspielen, wrid ihnen die Politik wesentlich härtere Vorgaben erteilen.
Der Zukunftsrat hat seinen Bericht Anfang des Jahres abgegeben und hat da auch deutlich Stellung bezogen. In dem Bericht wird betont, wie wichtig der öffentlich-rechtliche Rundfunk für die gesellschaftliche Debatte ist. Haben Sie den Eindruck, dass die Diskussion über den Reformstaatsvertrag in den vergangenen Monaten dazu beigetragen hat, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland zu stärken?
Ein Stück weit schon - sofern ARD, ZDF und Deutschlandfunk mit dem Ball, der ihnen zugespielt wurde, Tore schießen. Falls sie den Ball wegspielen, wird ihnen die Politik früher oder später wesentlich härtere und möglicherweise ungemütliche Vorgaben erteilen. Das sage ich als Journalist, der auf die Unabhängigkeit der Anbieter bedacht ist. Dieser Reformstaatsvertrag ist ein Weckruf.
Heißt das, die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind jetzt noch stärker aufgerufen, sich tatsächlich selbst zu reformieren?
Nicht selten haben sie darauf gewettet, dass die 16 Länder sich nicht auf Reformen einigen. Und die Reformschritte, die sie in Eigeninitiative tun, sind aus der Binnenwarte groß, in der Außensicht bescheiden. Derzeit beobachte ich, wie am Angebot gespart wird. Würden die Hausaufgaben gemacht, wäre das unnötig.
Sich bei Technik und Verwaltung arbeitsteilig aufzustellen, ist viel ergiebiger, als das Angebot arbeitsteilig aufzustellen.
Wo sehen Sie Einsparmöglichkeiten?
In einer arbeitsteiligen Verwaltung und einer einheitlichen Technologie. Wird die Technologie harmonisiert - was ein Kraftakt ist, das weiß ich aus eigener Erfahrung -, lässt sie sich kostengünstiger einkaufen und weiterentwickeln. Viel Geld wird gespart, sobald Schnittstellen und Firewalls wegfallen, die Produktionssysteme und die Softwares kompatibel sind. Das erfordert ein konsequentes Vorgehen über zehn Jahre, gegen unzählige interne Widerstände. Sich bei Technik und Verwaltung arbeitsteilig aufzustellen, ist aber viel ergiebiger, als das Angebot arbeitsteilig bereitzustellen.
Halten Sie die Kooperationsvorhaben, die die ARD in den letzten Monaten oder im letzten Jahr angestoßen hat, zum Beispiel die gemeinsamen Programmstrecken bei den Kultur- und Informationswellen, nicht für zielführend?
Die Frage lässt sich so pauschal nicht beantworten. Eine außerordentlich zielführende Kooperation ist seit 1952 die "Tagesschau". Zu redaktionellen Fragen äußere ich mich nicht als Mitglied des Zukunftsrats, nur privat als Mediennutzer. Zum Beispiel ist es bereichernd und attraktiv, in den Medien auf verschiedene Rezensionen zu einer Ausstellung, einer Tagung oder einem Buch zu stoßen.
In der ARD ist die Devise ausgegeben worden, dass es reicht, wenn ein großer Roman ein- oder zweimal besprochen wird in den Kulturwellen, dass er nicht von neun Rundfunkanstalten besprochen werden soll. Das ist ein Verlust an Meinungsvielfalt ...
Zwischen neun und zwei Rezensionen ist Spielraum.
infobox: Der im März 2023 von der Rundfunkkommission der Bundesländer eingesetzte "Rat für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" hat am 18. Januar seinen Bericht vorgestellt. Dem Rat gehörten acht Expertinnen und Experten an: die ehemalige Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr Julia Jäkel, der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Peter M. Huber, der Publizist Roger de Weck, der Medienrechtler Mark D. Cole, die Digitaljournalismus-Professorin Annika Sehl, die Journalistin Maria Exner, die Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film in München, Bettina Reitz, und die Urheberrechtsexpertin Nadine Klass.
In den vergangenen Monaten sind die Programmflächen in den Kulturwellen einander immer mehr angeglichen worden. Wenn man mehr auf Module setzt, die überall einsetzbar sind, verschwindet meiner Beobachtung nach auch die Persönlichkeit, eben das Programmatische einer Welle.
Da und dort ist es absolut sinnvoll zusammenzuarbeiten. Woanders mag man zugunsten der Medienvielfalt - die in privaten Medien schwindet - darauf verzichten. Auf diesem Feld jedenfalls ist nicht das große Geld zu holen. Ich werde mich aber nicht in Detailkritik verlieren. Nur eine grundsätzliche Bemerkung: In einer polarisierten Gesellschaft ist Belletristik besonders wertvoll. Wer einen Roman liest, der betritt andere Welten, erfährt andere Sichtweisen, entdeckt andere Perspektiven. Romane sind ein Beitrag zur offenen Gesellschaft.
Sie selbst haben gerade ein Buch geschrieben, ein Sachbuch mit dem Titel "Das Prinzip Trotzdem. Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen". Welche Rolle spielen die Öffentlich-Rechtlichen im System Journalismus?
Eine wesentliche. Sie sind übrigens eine Benchmark. Nur ein Beispiel: Ohne die Öffentlich-Rechtlichen und ihr Netz von Auslandkorrespondenten würde mancher Verlag das eigene Netz stärker abbauen. Mehrere Studien belegen, dass in Ländern, in denen die Öffentlich-Rechtlichen stark sind, die Qualität der Medien insgesamt besser ist und private Anbieter dadurch eher gestärkt werden.
Auch bei Privaten wächst die Einsicht, dass es sich nicht lohnt, unter den Blicken globaler Riesen einen Kampf der nationalen Zwerge zu führen.
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzungen zwischen Verlegern und Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland? Ist das ein Streit an der falschen Stelle?
Jüngst war ich auf einem Podium des Verbands der Bayerischen Wirtschaft mit einem Kollegen aus den kommerziellen Fernsehkanälen. Auch er betonte, dieser Streit sei anachronistisch: Die eigentlichen Wettbewerber seien die globalen Plattformen. Das stimmte mich zuversichtlich. Auch bei Privaten wächst die Einsicht, dass es sich nicht lohnt, unter den Blicken globaler Riesen einen Kampf der nationalen Zwerge zu führen.
Den Öffentlich-Rechtlichen wird in Deutschland häufig vorgeworfen, dass sie nicht das gesamte Meinungsspektrum abdecken, dass sie Regierungspositionen vertreten und interessengeleitet berichten. Trifft das Ihrer Beobachtung nach zu?
Da und dort spürt man schon so etwas wie eine Haltung, die mehr politisch als journalistisch ist. Guter Journalismus hält denselben Abstand zu jedem Gegenstand der Berichterstattung.
Die Feinde der offenen Gesellschaft und der öffentlichen Medienhäuser werden aggressiv bleiben.
Müssen die Öffentlich-Rechtlichen mehr Abstand halten?
Das ist nicht das Kernproblem. Die Leistungsaufträge der Öffentlich-Rechtlichen gründen in den Werten der Aufklärung: gute Informationen für eine gute Demokratie, Respekt der Menschenwürde, Einbezug der Minderheiten, Förderung der Kultur. Wir haben es nunmehr aber in halb Europa mit antiaufklärerischen Kräften zu tun. Sie halten schon die Leistungsaufträge öffentlicher Medienhäuser für tendenziös. Diese autoritären Kräfte funktionieren nach dem Prinzip: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich - wer also eine journalistisch unabhängige Haltung wahrt, ist gegen mich. Solchen Kräften geht es nicht wirklich um niedrigere Beiträge. Sie möchten Medienhäuser, die sich ihrem Zugriff entziehen, destabilisieren, wenn nicht beseitigen, wie das in der Schweiz ein Volksbegehren anstrebte. Da können ARD, ZDF und Deutschlandfunk tun und lassen, was sie wollen - die Feinde der offenen Gesellschaft und der öffentlichen Medienhäuser werden aggressiv bleiben.
Werden sie auch stärker?
Kann sein. Aber da und dort sind sie derzeit auf dem Rückzug: in Spanien etwa und in Nordeuropa. In Polen haben sie die Macht verloren. Bei den Europawahlen wuchsen die Bäume auch nicht in den Himmel. Mit anderen Worten - Achtung, da folgt nun doch eine Prognose! - werden wir in nächster Zeit wohl ein Auf und Ab der Demokraten und der Autoritären erleben. Erstere wollen die demokratischen Institutionen, die Gewaltenteilung und Machtverteilung stärken. Letztere möchten alle Macht an sich reißen. Sie schmähen das Parlament als Schwatzbude, sie möchten die Justiz in den eigenen Dienst stellen, auch die Vierte Gewalt nehmen sie an die Kandare. Das Kennzeichen von Autoritären ist, dass sie antiinstitutionell sind - zugunsten des Personellen: des starken Manns, der starken Frau.
Das lineare Prinzip wird sich beim Radio lang halten.
Personalisierung wird auch von den Medien betrieben. Medien berichten viel über Personen, aber sehr wenig über Strukturen. Da machen auch die öffentlich-rechtlichen Sender mit.
Da kritisiert mein Buch ganz klar auch öffentliche Medienhäuser. Wobei man differenzieren sollte: Das Fernsehen als visuelles Medium muss jeden Gedanken durch eine Person verkörpern lassen. Viel begrifflicher ist das Radio. Übrigens hege ich eine alte Liebe zum Radio und eine jüngere Liebe zu Podcasts. In meiner Jugend wollte ich Radiojournalist in Frankreich werden - das Schicksal hat mich dann zum schreibenden Journalisten in Deutschland gemacht. Das Radio ist allemal zu einem Qualitätsmedium geworden.
War es das nicht immer? In der Nachkriegszeit hatte das Radio in Deutschland eine sehr wichtige Funktion und die hat es immer noch. Ich glaube, wir nehmen das Radio als persönlicher wahr als das Fernsehen. Ich halte das Radio für unterschätzt. Im Reformstaatsvertrag steht, es sollen 16 Radiowellen gestrichen werden, da gab es wenig Protest.
Radio, das sind Stimmen. Die Stimme kann recht abstrakte Dinge erörtern, aber in jeder Stimme schwingt so etwas wie eine Welle, eine Wärme, Empathie. Das macht das Radio einzigartig. Ob etwas mehr oder etwas weniger Sender: Das lineare Prinzip wird sich beim Radio lang halten, weil es einem Ritual entspricht, bei den verschiedensten morgendlichen Tätigkeiten und im Auto Radio zu hören. Als Schweizer darf ich hinzufügen: Das Radio-Angebot sowohl von Deutschlandfunk als auch der ARD zählt zu den weltbesten. Ebenso ist das Fernsehangebot erstklassig und würde noch mehr Akzeptanz finden, wenn es effizienter produziert würde.
Journalismus hält Abstand, der Medienbetrieb will sich anbiedern.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über die Zersplitterung der Öffentlichkeit in viele verschiedene Öffentlichkeiten, das wird durch Online-Plattformen und soziale Netzwerke verstärkt. Es gibt kaum noch eine gemeinsame Öffentlichkeit. Das Fernsehen hat seine Lagerfeuerfunktion schon lange verloren, abgesehen vielleicht von den Sportveranstaltungen. Wie kann es dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gelingen, in dieser Situation wieder eine gemeinsame Öffentlichkeit herzustellen?
Ich lege dar, wie die Gesetze des Journalismus und die des Medienbetriebs auseinanderlaufen. Journalismus ist an sich nüchtern, der Medienbetrieb zusehends emotional. Journalismus hält Abstand, der Medienbetrieb will sich anbiedern. Journalismus denkt zunächst an das Angebot, der Medienbetrieb an die Nachfrage. Es ist das Privileg, aber auch die Pflicht der Öffentlich-Rechtlichen, dem Journalismus treu zu bleiben und Fehlentwicklungen des Medienbetriebs möglichst zu vermeiden. Zu tun, was der Medienbetrieb tut, bringt Quote und Klicks, aber keine Bindung.
Der Medienbetrieb meint, Aufregung sei Aufmerksamkeit. In Wahrheit mindert Aufregung die Aufmerksamkeit.
Meinen Sie damit, die öffentlich-rechtlichen Medien sollten sich weniger anbiedern und mehr Distanz wahren?
Sie sollen das Publikum für sich einnehmen, aber gewiss nicht durch Anbiederung oder mediale Nervosität. Denn die stößt immer mehr Menschen ab. Wir erleben den Wechsel von der Aufmerksamkeitsökonomie zur Aufregungsökonomie. Private Medien haben ihr altes Geschäftsmodell verloren, die Finanzierung des Journalismus durch Werbung fällt weitgehend weg. Also muss sich Journalismus selbst finanzieren. An sich müssten die Verlage in die Redaktionen investieren, sie ausbauen, denn es verkauft sich nur das, was Substanz hat. Vielerorts geschieht das Gegenteil: Redaktionen schrumpfen. Und versuchen, den Verlust an Fachkompetenz und Substanz wettzumachen oder zu kaschieren, indem sie reißerischer werden. Auch Banales wird in dramatische Worte gekleidet. Das ermüdet viele Nutzerinnen und Nutzer in ohnehin ermüdenden Zeiten. Ein Teil des Publikums geht auf Abstand zum erregten Medienbetrieb, die Zahl der Nachrichtenvermeider steigt rapide. Dagegen ist das Erfolgsmodell öffentlicher Anbieter: Ruhig bleiben, journalistisch bleiben. Das mag kurzfristig Klicks kosten, mittelfristig wird das Publikum umso fester gebunden. Der Medienbetrieb meint, Aufregung sei Aufmerksamkeit. In Wahrheit mindert Aufregung die Aufmerksamkeit: Wer aufgeregt ist, der hört oder schaut einer Sendung nicht konzentriert zu, der liest ein Medium nur flüchtig. Hier eröffnet sich den Öffentlich-Rechtlichen eine Riesenchance.
dir
Zuerst veröffentlicht 29.11.2024 09:00 Letzte Änderung: 29.11.2024 11:14
Schlagworte: Medien, Medienpolitik, Medienstaatsvertrag, Rundfunk, Reformen, Zukunftsrat, de Weck, Interview, Roether, NEU
zur Startseite von epd medien