30.11.2024 09:00
Laudatio von Heribert Prantl für Günter Wallraff
Wir ehren hier mit Freude und Respekt eine "abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich". Mit diesem Urteil hat einst die Bundeswehr den Kriegsdienstverweigerer Günter Wallraff entlassen, nachdem sie ihn zuvor als Verweigerer partout nicht hatte anerkennen wollen und ihn stattdessen ziemlich traktierte. Weil Wallraff seine Wehrdienst-Erlebnisse veröffentlichen wollte, hatte man ihn in die geschlossene Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses Koblenz gesteckt, um ihn unglaubwürdig zu machen. Dort kam Wallraff zu dem Etikett, mit dem ich meine Ehrung begonnen habe: Wir ehren eine "abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich."
Wir ehren den türkischen Leiharbeiter Ali. Wir ehren den Bildreporter Hans Esser. Wir ehren den Paketauslieferer bei GLS, der 14 Stunden am Tag Pakete zu den Kunden schleppte. Wir ehren einen Undercover-Journalisten, wir ehren einen Mann, der "mit dem journalistischen Prinzip der Rollenreportage die deutsche Gesellschaft durchleuchtet hat wie kein zweiter" (so epd in einem Interview); wir ehren einen großen Kollegen, der mit seinen Undercover-Geschichten Geschichte geschrieben hat - Mediengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte.
Das Wallraff-Urteil hate dem Journalismus ermöglicht, verdeckt zu recherchieren.
Wallraff hat der Presse- und der Meinungsfreiheit ein bis dahin ungeahntes Leben gegeben. Er hat 1981 in Karlsruhe beim Bundesgerichtshof ein wegweisendes, ein spektakuläres Urteil erwirkt. Das Urteil besagt, dass auch die Veröffentlichung von rechtswidrig beschafften oder erlangten Informationen vom Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit umfasst ist, wenn diese Informationen für die Unterrichtung der Öffentlichkeit wichtig sind. Dieses Wallraff-Urteil hat dem Journalismus ermöglicht, verdeckt zu recherchieren. Unser Preisträger hat also den Journalismus geprägt, er hat ihn verändert, er hat ihn vorangetrieben, er hat ihn erweitert.
Günter Wallraff ist daher ein Journalisten-Journalist. Er ist einer, der Ansporn gibt - also ein Vorbild. Er war und ist ein Vorbild für viele junge Kolleginnen und Kollegen, die wegen ihm in den Journalismus gegangen sind. Wallraff hat sich also um den Journalismus, um die Pressefreiheit und um die Demokratie verdient gemacht. Ich sage das nicht deswegen, weil so ein Satz üblicherweise in eine Laudatio gehört; ich sage das deshalb, weil es so ist. Demokratie ist so viel mehr als ein Wahlakt. Demokratie heißt: Zukunft! Gemeinsam! Gestalten! Wallraff hat das ernst genommen, er nimmt das ernst, er hat Debatten provoziert, er hat Diskussionen befruchtet, er hat Reformen bewirkt, er hat sie mit seinen Recherchen erzwungen. Wallraff war und ist anstößig im Wortsinn: Er hat Anstöße gegeben.
Wir ehren einen leidenschaftlichen Gewerkschafter.
Einen besonders schönen aktuellen Anstoß habe ich einem Interview entnommen, das er zu seinem achtzigsten Geburtstag vor gut zwei Jahren gegeben hat: Es sei, so meinte er, in der Politik und auch im Journalismus ein Problem, "dass die meisten, schätzungsweise achtzig oder neunzig Prozent, aus besser gestellten Familien kommen. Vielleicht wäre ein soziales Jahr für manche gar nicht schlecht, um Einblicke in andere, prekäre Arbeitsbedingungen und Lebenswelten zu erhalten." Das ist eine wunderbare, das ist eine kluge Anregung für die Journalistenausbildung.
Wir ehren einen leidenschaftlichen Gewerkschafter, wir ehren einen Mann, dem eine menschenwürdige Arbeits- und Lebensumgebung für alle immer wichtig war. Wallraffs erste große Texte wurden in den 1960er Jahren im Gewerkschaftsmagazin "Metall", also in der "Metallzeitung" gedruckt. Chefredakteur dort war über 15 Jahre lang der Sozialist und jüdische Widerständler Jakob Moneta, gerufen und berufen von Otto Brenner, dem damaligen Chef der IG Metall, dem Namensgeber unserer Stiftung und unseres Preises.
Wallraff stand immer auf der Seite von unterdrückten und ausgebeuteten Menschen.
Wallraff bezeichnet diesen langjährigen "Metall"-Chefredakteur Jakob Moneta, der ihm zum Förderer und Freund wurde, als sein journalistisches Vorbild. Moneta hatte 1933 Hitler-Deutschland verlassen, war nach Palästina gegangen, um in einem Kibbuz nicht nur zu überleben, sondern um dort sozialistische Kollektivität zu lernen. Wer sich fragt, warum Wallraff immer wieder die Grenzen des Journalismus überschritten hat und zum mutigen politischen Aktivisten wurde, der findet in Jakob Monetas Lebenslauf Antworten. Die gefährlichste politische Aktion Wallraffs war die von 1974 in Athen, als er sich aus Protest gegen die Verbrechen der griechischen Militärdiktatur an einen Laternenmast auf dem Syntagmaplatz kettete und dafür eingesperrt und gefoltert wurde. Der Sturz der Diktatur hat ihn gerettet.
Die Reden und Aufsätze des großen Gewerkschafters und Wallraff-Förderers Jakob Moneta finden sich in einem Band mit dem schönen Titel "Mehr Macht für die Ohnmächtigen". Die Arbeit Wallraffs, seine journalistischen Texte und seine unglaublich erfolgreichen Bücher haben dazu beigetragen. Wallraff stand immer auf der Seite von unterdrückten und ausgebeuteten Menschen, auf der Seite von Oppositionellen und von politischen Gefangenen. Wir ehren einen bekennenden Agnostiker, der die Bergpredigt liebt. Wir verleihen Günter Wallraff den großen Otto Brenner-Preis, die besondere Auszeichnung.
Die 82-jährige Tochter Otto Brenners sitzt heute hier unter uns. Sie ist, welch schöner Zufall, so wie Wallraff, am 1. Oktober 1942 geboren.
Herzlichen Glückwunsch, lieber Günter Wallraff.
dir
Zuerst veröffentlicht 30.11.2024 10:00
Schlagworte: Medien, Journalismus, Wallraff, Laudatio, Prantl, Dokumentation
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