Angst vor Kontrollverlust - epd medien

02.12.2024 10:58

In der ZDF-Miniserie "Hungry" wird die 17-jährige Ronja wegen ihrer Magersucht in die Klinik eingewiesen. Dort hasst sie alles: die Therapeutin, die Essbegleitung und die anderen "Psychos".

Ronnie (Zoe Magdalena) holt sich in der Klinik eine Essensration ab

epd Ronja, genannt Ronnie, will nicht in die Klinik. Ihre Mutter wiederum will nicht zusehen, wie ihr Kind verhungert. Denn die 17-jährige Ronnie (Zoe Magdalena) ist eine von vielen Heranwachsenden, die mit einer Essstörung kämpfen. In ihrem Fall lautet die Diagnose Anorexia Nervosa, Magersucht. Der jungen Frau bleibt keine Wahl, sie wird stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen, die Alternative lautet: Therapie oder Sterben.

In der Klinik ist zunächst alles und jeder, der dem ungestörten Hungern im Weg steht, in Ronnies Augen ein Feind, egal ob die Mutter, die Therapeutin Frau Jakobsen (Minna Wündrich), der notorisch gutgelaunte Caterer Tim (Felix Lobrecht), die Klinikregeln oder der Teller mit Eierragout, das sich vor Ronnie zu einem eklig-unüberwindbaren Gebirge auftürmt.

Mikrokosmos der Klinik

Aber da sind auch die anderen jugendlichen Mitpatientinnen und Patienten, all die "Essies" (die mit den Essstörungen) oder "Depris": ihre Zimmergenossin Kimmie (Evelin Schwarz), die sich ohne dickes Make-Up, Handy und Insta nackt, hässlich und leer fühlt; Milan (Amadin Piatello) mit dem Corona-Knacks, der nur mit Mundschutz herumläuft und Angst vor Viren und Berührungen hat; Nick (Alessandro Schuster) mit den schönen Augen und einer bipolaren Störung; die geduldige Gina (Daria Vivien Wolf), ebenfalls ein "Essie" und Melly (Felina Zenner), die sich hartnäckig der Therapie und der Nahrungsaufnahme verweigert.

Die Miniserie, die mit ihren sechs Folgen gerade mal auf die Länge eines Spielfilms kommt, konzentriert sich ganz auf diesen Mikrokosmos der Klinikstation. Schnell wird klar, dass das Drehbuch-Team um die Headautorin und Hauptdarstellerin Zoe Magdalena aus eigenen Erfahrungen schöpfen kann. Sehr präzise werden nicht nur der Therapiealltag und die Atmosphäre auf der Station gezeichnet, sondern auch die typischen Umstände bei Essstörungen: Die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Das Mantra, dass im eigenen Umfeld eigentlich alles prima sei und man selbst nicht "irre" oder krank. Das Problem, nicht zu wissen, was eigentlich das eigene Problem ist. Der Zwang zur eisernen Selbstkontrolle, wenn sonst alles irgendwie unberechenbar und unbeeinflussbar ist, und die Angst vor dem Kontrollverlust.

Schon die unendliche Überwindung, die es Ronnie kostet, bei einem gemeinsamen "Auswärtsessen" von einem Stück Pizza abzubeißen, lässt ahnen, welche Kämpfe sie mit sich austrägt.

Geschützter Raum

Die Serie tut gut daran, keine Ursachenforschung zu betreiben oder gar Schuld zuzuweisen. Sie konzentriert sich auf die Interaktionen, Konflikte und inneren Kämpfe der jungen Menschen, auf ihre oft ambivalenten Gefühle und die Entwicklungsprozesse, die sich in den eher nüchternen Räumlichkeiten einer Klinik abspielen. Die Erkenntnis, dass die Klinik keine Anstalt ist, sondern einen geschützten Raum bietet, in dem man einfach man selbst sein kann, ist deshalb auch ein entscheidender Moment für Ronnie.

Es ist auch klug, dass die Serie auf dramaturgische Kniffe oder künstliche Spannungsbögen verzichtet, denn die Gruppendynamik und die Kämpfe, die die Jugendlichen mit sich ausfechten, sind schon dramatisch und existentiell genug. Jede und jeder entdeckt andere, bislang unbekannte Seiten an den anderen und an sich selbst. Etwa in jener Szene, in der die sonst so taffe Melly, die sich allen Therapieübungen entziehen will, mit einer Ernährungssonde in der Nase still im Krankenbett liegt und erkennt, dass sie nicht sterben will. Die Situation ist auch für Ronnie schockierend.

Trauer, Wut und Glücksgefühle

Es geht um Freundschaften und Vertrauen, um das erste Verliebtsein zwischen Ronnie und Nick, um Enttäuschungen, Schmerz, Trauer, Wut und Glücksgefühle.

Die Tonlage der Miniserie ist nicht pathetisch, auch wenn es bei Essstörungen oft genug tatsächlich um Leben und Tod geht, sondern bemerkenswert unangestrengt. Die Jugendlichen reden, wie sie eben reden, sie witzeln, ziehen sich gegenseitig auf, können auch mal sarkastisch werden, einfach genervt sein oder nach den richtigen Worten suchen.

"Hungry" ist, gerade weil die Serie auf pädagogische Ansätze verzichtet, ein wichtiger Beitrag, der Mut und Hoffnung macht. Denn die Zahl der Jugendlichen, die unter psychischen Problemen leiden, egal ob Depressionen, Angst oder eben Essstörungen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen, verstärkt noch durch die Einschränkungen während der Pandemie. Ein Thema, das dringend mehr Beachtung braucht - auch mediale.

infobox: "Hungry", Miniserie, Regie: Eline Gehring, Buch: Zoe Magdalena, Jasmina Wesolowski, Momo Sinner, Kamera: Laura Hansen, Produktion: Network Movie (ZDF-Mediathek, seit 28.11.24, ZDFneo, 3.12.24, 22.35-0.20 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 02.12.2024 11:58

Ulrike Steglich

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Miniserie, Gehring, Magdalena, Wesolowski, Sinner, Steglich

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