07.12.2024 13:00
epd Alles begann mit einem leeren Blatt, das ein damals noch unbekannter englischer Hochschullehrer in der Klausur einer seiner Studenten entdeckte. Prima, dachte der gelangweilte Literaturdozent und nutzte den freien Platz, um darauf spontan den ersten Satz aus "Der Kleine Hobbit" zu notieren: "In a hole in the ground, there lived a hobbit." Der Kinderbuch-Bestseller legte den Grundstein für die Roman-Trilogie "Der Herr der Ringe", mit der John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) ein Paralleluniversum mit eigener Geschichte, ausgeprägter Geografie und fantastischen Kreaturen schuf.
Die immense Popularität der epischen Heldenreise wurde durch Peter Jacksons monumentale Leinwandadaption ab dem Jahr 2001 noch einmal vervielfacht. Kein Wunder, dass Dokumentationen die Frage aufwarfen, woher der Schöpfer von "Der Herr der Ringe" seine Inspirationen bezog. Bekanntlich verlief das Leben des friedfertigen englischen Dozenten bei Weitem weniger abenteuerlich als das seiner Helden. Tolkiens Interesse für nordische Mythologie sowie für Linguistik und sein Faible für das Erschaffen artifizieller Kunstsprachen, die zum Aufhänger für den verschlungenen Plot von "Der Herr der Ringe" wurden, sind zweifellos Schlüssel für die Roman-Trilogie, mit der der Autor ein neues Genre prägte.
In ihrem 90-minütigen Film verfolgen Matthias Schmidt und Jean-Christoph Caron einen anderen Ansatz. Sie nehmen geografische Besonderheiten und historische Personen unter die Lupe, die Eingang in Tolkiens Universum fanden. Aber Moment mal, wird jeder Literaturwissenschaftler sofort einwenden: Lässt sich mit dieser Methode tatsächlich die unverwechselbare Ästhetik eines Werks erklären? Ist eine solche Ineinanderspiegelung von Leben und Werk nicht literaturwissenschaftlich obsolet?
Diese Sackgasse ist den Autoren bewusst. Sie behaupten auch nicht, eine allein gültige Erklärung für die Methode Tolkien gefunden zu haben. Sie erinnern lediglich daran, dass der Schriftsteller in seinem Leben tatsächlich nur eine längere Reise unternommen hat: Im Jahr 1911 besuchte er als junger Mann die Schweiz, wo er mit einer Reisegruppe rund 300 Kilometer durchs Hochgebirge wanderte. Später angefertigte Aquarelle - deren stilistische Einzigartigkeit der Film gesondert untersucht - und nicht zuletzt detaillierte Beschreibungen aus "Der Herr der Ringe" belegen, dass das Schweizer Lauterbrunnental mehr als nur zufällige Ähnlichkeit mit Bruchtal hat, der Heimat der Elben.
Nicht minder überzeugend ist die motivische Ähnlichkeit zwischen den umgepflügten Schlachtfeldern an der Somme, wo Tolkien 1916 als Frontsoldat eine der verheerendsten Materialschlachten des Ersten Weltkriegs überstand, und der lebensfeindlichen Düsternis von Mordor. Höllenartige Eindrücke aus den Schützengräben und paradiesisch wirkende Landschaften in den Schweizer Hochalpen flossen in das Werk des britischen Autors ein. Diese motivischen Parallelen, die in der Dokumentation ausführlich illustriert werden, werden glücklicherweise nicht überbewertet. Sie werden in ein komplexes Geflecht weiterer Einflüsse, Bezugnahmen und Inspirationen eingerückt. Wie jeder Virtuose nahm Tolkien überall Anleihen, von der Bibel bis hin zu Richard Wagners "Ring der Nibelungen".
Neu sind diese Erkenntnisse nicht, sie werden aber kurzweilig aufbereitet. Der Film arbeitet mit zurückhaltend eingesetztem computeranimierten Reenactment und verflicht die motivgeschichtliche Spurensuche mit Einordnungen von Sachverständigen. Neben Tolkien-Experten aus dem akademischen Milieu kommen jüngere Internet-Blogger wie Annika Röttinger und Marcel R. Bülles zu Wort, deren Leidenschaft für ihr Thema auf den Film abfärbt. Auch Klischees über Fantasy-Stoffe, die dazu neigen würden, gesellschaftliche Probleme auszublenden und reaktionäres Gedankengut zu verbreiten, werden hinterfragt. So verdeutlicht ein Seitenblick auf die Heldinnen des Epos, dass Frauen in "Der Herr der Ringe" Schlüsselrollen einnehmen.
Die Filmzitate aus Peter Jacksons Leinwand-Trilogie wirken in dieser ambitionierten Dokumentation eher störend. Während Schmidt und Caron die faszinierende Vielfalt der Einflüsse auf Tolkien betonen, verengen die wirkmächtigen Bilder aus Jacksons Kinoepos den Blick auf eine vorgegebene Ästhetik. Und wenn der Off-Kommentar einmal behauptet, in "Isengart produziert der böse Zauberer Sauroman die Orks", so ist diese Verwechslung mit den Uruk-hais eine Ungenauigkeit, die in einer sonst so akribisch argumentierenden Dokumentation verwundert. Davon abgesehen, ist den Autoren eine anregende Studienreise durch Mittelerde gelungen.
infobox: "Tolkien: Die wahre Geschichte der Ringe", Dokumentation, Regie: Matthias Schmidt, Jean-Christoph Caron, Buch: Jean-Christoph Caron, Kamera: Johannes Straub, Jim Günther, Björn Kathöfer u. a., Produktion: Story House (Arte/ZDF, 5.12.24, 20.15-21.45 Uhr, Arte-Mediathek, bis 4.3.25)
Zuerst veröffentlicht 07.12.2024 14:00 Letzte Änderung: 09.12.2024 12:09
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KZDF, Dokumentation, Tolkien, Caron, Schmidt, Riepe, NEU
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