30.12.2024 08:35
epd Seit die Streamer, insbesondere Netflix mit der Serie "Dark", die Genrekombination Mystery und Coming-of-Age dominieren, seit "Game of Thrones" und "Herr der Ringe" die Grenzen dessen verschoben haben, was für ein Massenpublikum ästhetisch für zumutbar gehalten wird, sind Jahre vergangen. Lange schien das öffentlich-rechtliche Fernsehen hinterherzuhinken. Zu teuer, zu ausgreifend die Epik, zu wenig "den Sehgewohnheiten zumutbar", hieß es in den Sendern. Inzwischen gibt es einiges zu vermelden. Allen voran den großen Wurf der ARD-Serie "Oderbruch" in diesem Jahr, in der Weltkriegsgeschichte, veritabler Horror mit Moderleichen, Schuld und Adoleszenz eine gelungene grauenhafte Mischung ergaben. Auch das ZDF legte im vergangenen Jahr mit der Eigenproduktion "Was wir fürchten" zu Halloween eine Mystery-Coming-of-Age-Serie vor, der vieles gelang.
Wenig gruselig ist dagegen die Horror-Mysterie-Serie "Hameln", die ZDFneo kurz vor dem Jahreswechsel zeigt. Sie punktet dafür mit Bildungsmehrwert. Und mit Nachhilfe im Religionsunterricht. Man erfährt etwas über Schuld und Sühne bei Luther, lernt etwas über die Sage vom Rattenfänger, übersetzt ein wenig Mittelhochdeutsch. Es geht um Nachwuchs für die Bundeswehr, C.G. Jung wird ein bisschen erklärt. Überhaupt wird viel erklärt, herumgestanden, überlegt und besprochen. Anscheinend wird die Selbstverpflichtung "Unterhaltung nur mit Bildungs-, Informations- oder Kultumehrwert" im öffentlich-rechtlichen Horror immer noch viel zu ernst genommen. Solche Verpflichtung auf Zwecke ist eben ein Feind der Fantasy, jedenfalls dann, wenn der Zweck im Vordergrund steht und die eigentliche Erfindung der Fiktion nicht bereichert.
Die Auseinandersetzung findet in "Hameln" nicht zwischen den Jugendlichen, die hier die Hauptrollen spielen, und den Mächten der Finsternis, statt, sondern zwischen ebendiesen vernünftigen Jugendlichen und ihren eher kindischen Eltern. Diese Eltern haben Schlimmes getan oder nicht verhindert. Sie werden zwar von Schuldgefühlen getrieben, wollen aber ihre Schuld nicht offen bekennen. Aus Feigheit und Verantwortungslosigkeit versauen sie allen anderen, vor allem dem eigenen Nachwuchs, das Leben.
Leute also wie die Bürger von Hameln, die Mitte des 13. Jahrhunderts dem Rattenfänger aus Geiz den abgemachten und verdienten Lohn versagten. Der rächte sich, indem er mit seinen Zauberflötentönen 130 Hamelner Kinder zum Poppenberg führte, wo sie verschwanden und nimmer wieder kehrten. Nun, 2024, ist er (gespielt von Götz Otto) mit seiner Geisterkinderarmee in Fetzenkleidung und mit schlechten Zähnen zurück, um noch die damals vergessene Sehbehinderte, den Gehörlosen und den Bewegungseingeschränkten mitzunehmen, die Macht über Hameln und dann die ganze Welt zu übernehmen.
1248 blieben drei Kinder in der Stadt, blind, taub und lahm. 2014, so geht die Geschichte in "Hameln", als ein Installationskünstler zum Jubiläum auf dem Poppenberg Lichtbudenzauber mit überdimensionalen Brummkreiseln vollführte, erblindete Finja (Caroline Hartig), ertaubte Jannick (Constantin Keller), wurde Ruben (Riccardo Campione) bei einem Unfall zuschanden gefahren. Jetzt geht der Endkampf zwischen Schuld und Unschuld los. Beziehungsweise bald vielleicht.
Erst einmal plänkelt "Hameln" von Rainer Matsutani und Sandro Lang vor sich hin. Eine Pfarrerin hält auf den Kirchenstufen Konfirmationsunterricht ab, gebannt lauschen die Jugendlichen, während Finja mit ihrem Blindenstock die Gruppe passiert. Was Luther über Schuld und Buße und Bereuen dachte, kommt hier stark verkürzt zur Darstellung. Freilich wird alles Mögliche zum Versatzstück im Dienst der Geschichte und des Programmauftrags: Es geht auch um Inklusion von Behinderten, um den Unterstützer der erwählten Drei, der passenderweise Sam heißt (Jonathan Elias Weiske). Da Zuschauer den Hinweis vielleicht nicht verstehen könnten, verbalisiert ihn Finja noch einmal: Sam, wie Samweis Gamdschie, Frodos Freund im Epos "Herr der Ringe".
Mittelalter, Mittelerde, Sagen und Märchen, schwarzafrikanische "Witch Doctors", Flüche, Kindesmissbrauch, Patientinnenmissbrauch, Architektenpfusch, Affären, Alkoholmissbrauch - hier wird alles zur Horrormischung verwurstet. Die Erwachsenen, darunter Veronica Ferres als Mutter von Jannick und Sam und Florence Kasumba als Ärztin und schwarze Zauberin, André Röhner als Jugendpsychotherapeut, Christian Erdmann als unfähiger Kommissar und Clelia Sarto als schwer alkoholkranke Mutter, erscheinen auf der Bildfläche wie Figuren in einem Online-Rollenspiel, deren Rätsel gelöst werden müssen, bevor sie zur Seite geräumt werden.
Die Gruseloptik ist milde herausfordernd. Ästhetisch überwältigen oder traumatisieren werden die Bilder wohl kaum jemanden - das gilt auch für die Mörderkinder, die dem Rattenfänger die Machtübernahme erleichtern sollen.
Man fragt sich, für welche Zielgruppe "Hameln" gedacht ist. Die Zuschauer im Alter der Hauptfiguren, zwischen 16 und 20, werden Schockierenderes im Genre suchen. Erwachsene werden sich bei der ausgiebigen Bildungshäppchenhuberei eher abwenden. Bleiben die 14-Jährigen, die hier der Pfarrerin hingerissen lauschen, oder noch Jüngere. Aber auch sie werden bei dieser Hü-und-Hott-Dramatik kaum am Ball bleiben.
infobox: "Hameln", sechsteilige Horror-Mystery-Serie, Regie: Rainer Matsutani, Buch: Rainer Matsutani, Sandro Lang, Kamera: Clemens Messow, Produktion: Real Films, Don't Panic Films (ZDF-Mediathek, seit 30.12.24, ZDFneo, 30.12.24, 21.45-1.50 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 30.12.2024 09:35
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Streaming, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Mystery-Serie, Hameln, Matsutani, Lang, Hupertz
zur Startseite von epd medien