31.12.2024 09:15
epd Meret Becker als Oma? Da reibt man sich erst mal die Augen. Die meisten Schauspielerinnen hätten die Rolle einer grimmigen Großmutter mit Mitte 50 wohl abgelehnt, weil Frauen in der jugendversessenen Film- und Fernsehbranche Angst haben müssen, als alt zu gelten und keine Jobs mehr zu kriegen. Wer kann, macht auf "forever young" wie Iris Berben. Becker hat diese Angst offenbar nicht. Natürlich kann man mit Mitte 50 Großmutter eines Schulkinds sein - und man kann in diesem Alter so jugendlich wirken wie Becker.
Nicht nur äußerlich, auch sonst ist Becker in der Rolle der verbitterten brandenburgischen Landfrau Anne alles andere als eine liebe Klischee-Großmutter. Wenn sie ein Klischee erfüllt, dann das der bösen Hexe (von Becker mitreißend lustvoll ausspielt). Anne ist mit dem ganzen Dorf verkracht. Als ein hartnäckiger Briefträger unbedingt eine Sendung für ihre erwachsene Tochter Julia (Emma Bading) abgeben will, schlägt sie ihn mit der doppelläufigen Flinte in die Flucht. Mit ihrer Tochter will sie nichts mehr zu tun haben. Und die nichts mehr mit der Mutter. Seit vielen Jahren, seit dem Unfalltod des Ehemanns und Vaters, herrscht Funkstille zwischen den Frauen.
Als Julias achtjährige Tochter Tilda (Luise Landau), von deren Existenz Anne nichts wusste, eines Tages von einer Freundin der Mutter bei ihr abgegeben wird, weil Julia im Gefängnis gelandet ist, bekommt das Mädchen von der spröden Großmutter sofort zu hören: "Familie is nich." Familie is dann aber natürlich doch. Und selbstredend knackt das kleine blonde Mädchen das nur scheinbar steinerne Herz der Großmutter. Auch unter dieser harten Schale steckt der berühmte weiche Kern. Annes innerer Wandel beziehungsweise ihre Rückentwicklung von der in Verbitterung erstarrten Frau zum lebendigen Menschen, der wieder Beziehungen führt, dauert lang und fällt dann umso vollständiger aus.
Anne sieht ihre Fehler ein und gesteht ihrer Tochter Julia, mit der sie eben noch einen Sorgerechtsstreit um die Enkelin geführt hatte, dass ihr großer Groll gegen sie letztlich auf einem Selbstvorwurf beruhte. Der Vater kam ums Leben, als er auf Annes Wunsch per Auto nach der jugendlichen Julia gesucht hatte. Er selbst hatte nicht losfahren wollen, sondern abwarten, bis Julia wiederkäme.
Die Geschichte ist ganz auf Becker zugeschnitten und sie geht derart in der Rolle auf, dass man vergisst, dass sie Schauspielerin ist und ihre Anne gar kein echter Mensch. Als Nebenfigur überzeugt Florian Lukas als Bürgermeister, der Anne heimlich (und dann irgendwann auch nicht mehr nur heimlich) liebt. Hingegen outriert Emma Bading als Tildas jugendlich-ausgeflippte Mutter, die sich nach einer Jobcenter-Sperre illegal Geld verschaffen will. Überzogen und überdeutlich sind in diesem Film so manche Szenen, mitunter auch die Musik. Becker macht es wett.
Drei starke Frauen - beziehungsweise zwei Frauen und ein Mädchen aus drei Generationen, die machen, was sie wollen. Auch um den Preis Außenseiterinnen zu sein. Anne lässt die frühmorgens krähenden Kampfhähne des Nachbarn aus den Käfigen, worauf die sich zu Tode hacken. Nachtruhe-Problem gelöst. Ihre Tochter hatte keine Skrupel kriminell zu werden, um Geld zu beschaffen. Und die Kleine beißt auf dem Schulhof schon mal zu, um ihren Standpunkt klarzumachen. Alles nicht unbedingt vornehm oder gar vorbildlich. Aber beeindruckend. Diese Frauen beißen sich durch.
infobox: "Familie is nich", Fernsehfilm, Regie: Nana Neul, Buch: Andrea Deppert, Kamera: Bernhard Keller, Produktion: Lieblingsfilm GmbH (Arte-Mediathek/ZDF seit 12.12.25, Arte, 13.12.24, 20.15-21.45 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 31.12.2024 10:15
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Fernsehfilm, Neul, Deppert, Kaiser
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