Der Fall "Jule Stinkesocke" - epd medien

03.01.2025 10:45

Jahrelang hat "Jule Stinkesocke" auf einem Blog im Internet und einem Twitter-Account Geschichten aus dem Alltag einer behinderten jungen Frau erzählt. In der vierteiligen Doku-Serie "WTF is Jule?" geht Maximilian Mundt der Frage nach, wer hinter diesem Account steckte.

In der Doku-Serie "WTF ist Jule?!" begibt sich Maximilian Mundt auf die Spuren eines Catfishers

epd "Jule Stinkesocke" war der Name einer jungen Frau im Rollstuhl, welche 2009 einen Blog gründete und diesen wie ein Tagebuch führte. In dem Blog und auf ihrem Twitter-Account schilderte sie Sorgen, Ängste und Herausforderungen, die den Alltag einer jungen Frau im Rollstuhl prägen, ergänzt mit expliziten Einblicken in ihr Intimleben. Die Details ihres Lebens waren beeindruckend: Nach einem tragischen Autounfall, die Ursache ihrer körperlichen Einschränkung, studierte sie Medizin, wurde Kinderärztin, trieb Leistungssport und adoptierte später die kleine "Helena". Wäre da nicht ein Problem: "Jule Stinkesocke" gab es offenbar nie.

Der Account gewann schnell viele begeisterte Leserinnen und Leser. Eine war Frenze, eine junge Frau im Rollstuhl. "Jules" Offenheit habe sie von Anfang an förmlich umgehauen, sagt sie in der vierteiligen Doku-Serie "WTF is Jule", die seit dem 17. Dezember 2024 in der ZDF-Mediathek verfügbar ist. In "WTF is Jule?" führt Schauspieler Maximilian Mundt, bekannt aus der Netflix-Serie "How to Sell Drugs Online (Fast)", die Zuschauer durch die Recherche zum Fall "Jule Stinkesocke".

Erschlichenes Vertrauen

Seit Ende 2023 gehen Ermittler davon aus, dass ein deutlich älterer Mann namens "Boris" hinter dem Pseudonym steckt. Dieser bestreitet das in einem von seinem Anwalt veröffentlichten Schreiben. Gegen ihn wird jedoch weiter ermittelt. Die Internet-Community wirft "Boris" vor, im Fall von "Jule Stinkesocke" Catfishing betrieben zu haben - so nennt man das, wenn Menschen andere täuschen, indem sie sich online als jemand anderes ausgeben, um so an Anerkennung, Beziehungen und auch an Geld zu kommen.

Catfisher nutzen häufig gefälschte Fotos, erfundene Biografien oder falsche Lebensgeschichten, um Vertrauen zu erschleichen und emotionalen Schaden anzurichten. "WTF is Jule?" gibt Einblick in die Welt der sozialen Medien, die psychologischen Hintergründe von Catfishern und die Gefühle der Getäuschten, die häufig lange mit den psychologischen Folgen des Betrugs zu kämpfen haben.

Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie

Catfisher haben häufig selbst einem sehr starken inneren Leidensdruck. Zuschauerinnen und Zuschauer der Serie erfahren dort von Psychoanalytiker Timo Storck, dass Catfisher oft eine Kombination von Persönlichkeitsmerkmalen in sich tragen, die als sozial schädlich gelten, wie Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Storck erklärt, dass es "Boris" im Fall von "Jule Stinkesocke" mutmaßlich darum ging, eine Person zu erschaffen, der alles gelingt.

Die körperliche Einschränkung erhöhte die Fallhöhe und erschloss eine vulnerable und häufig unterrepräsentierte Zielgruppe. Die von Catfishing Betroffenen leiden wiederum häufig unter kognitiver Dissonanz. Sie blenden Informationen aus, die nicht ins Bild passen, weil die Wahrheit oft schmerzhaft ist. Im Fall von "Jule Stinkesocke" bedeutete das für viele, eine vermeintliche echte Freundin aufgeben zu müssen.

Mangelnde Ernsthaftigkeit?

In "WTF is Jule?" wird eine sehr spannende Recherche präsentiert, doch die Ernsthaftigkeit der Serie wird immer wieder durch Infotainment-Elemente unterbrochen. So entsteht der Eindruck, dass es den Aufklärenden eher um die unterhaltenden und sensationellen Aspekte des Falls geht, statt wie behauptet, um nüchterne Aufklärung und die Gefühle der Getäuschten.

Zu Beginn der letzten Folge liegt Moderator Mundt auf einem Sofa und isst Popcorn. Er beschreibt seine Reaktion nach der Konfrontation des Accounts mit den gesammelten Beweisen: "Angezogen vom ganzen Chaos, ich war bereit für den letzten Akt, Jules letzter Auftritt, dieser eine letzte Post - ich habe es mir richtig schmecken lassen." Szenen wie diese sollen Leichtigkeit und Identifikation vermitteln, wirken allerdings eher verharmlosend.

Freude über den Erfolg

Die Aufklärung des Falls wurde maßgeblich von drei Frauen - "Piri", "Punkti" und "Steffi" - vorangetrieben, die über Twitter Indizien sammelten, um "Jule Stinkesocke" als Fake zu entlarven. Ihr Engagement ist ehrenwert, wäre da nicht die allzu deutlich herausgestellte Freude in Anbetracht des eigenen Recherche-Erfolgs. Alle drei gehören nicht zur körperlich eingeschränkten Community.

Wird so die Betroffenheit der Getäuschten konterkariert? Fest steht, dass jede und jeder einzelne von ihnen in der Serie mit ihrer Stärke, ihrem Mut und ihrer Offenheit überzeugen. Einige von ihnen hatten sich selbst nach dem Bekanntwerden des Falls schwere Vorwürfe gemacht und leiden bis heute daran. Die Verantwortung liegt bei dem Catfisher. Fraglich bleibt, ob die Macherinnen und Macherinnen der Serie die richtige Darstellungsform für die Geschichte gefunden haben.

infobox: "WTF is Jule?", vierteilige Dokumentation mit Maximillian Mundt, Regie: Laura-Jasmin Leick, Buch: Lorelei Holtmann, Kamera: Rick Schepker, Daniel Schua, Sabine Jankowski, Produktion: Flappers Film & VFX (ZDF-Mediathek, seit 17.12.24)



Zuerst veröffentlicht 03.01.2025 11:45

Sonja Ruf

Schlagworte: Medien, Dokumentation, Frauen, Behinderung, Kritik, KZDF, Ruf

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