Das Echte und das Künstliche - epd medien

07.01.2025 10:35

Das Fernsehjahr 2024 war geprägt von Kriegen, dem Bruch der Ampel-Koalition in Deutschland, den Wahlen in den USA und mehreren Sport-Großereignissen. Der Medienwissenschaftler Dietrich Leder konzentriert sich in seinem Rückblick auf das Programm auf Informationssendungen und dokumentarische Formate.

Ein Rückblick auf das Fernsehjahr 2024

Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg

epd Fernsehen ist ein Medium der Kontinuität und Präsenz. Dass es stets weitersendet, ist eine Gewissheit, die zwar keinen Trost spendet, aber so etwas wie Sicherheit verspricht: Es geht weiter - irgendwie. Dass 2024 auch die Kriege weitergingen - in der Ukraine, im Gaza-Streifen und deutlich weniger beachtet in Syrien und im Sudan - wurde wahrgenommen, aber in die Fernsehnormalität integriert. Selbst die Attentate auf Großereignisse in Deutschland wie ein Stadtfest in Solingen am 23. August und einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember sorgten nur für ein kurzes Innehalten. So wurde die Ausstrahlung von "Verstehen Sie Spaß?" im Ersten am Tag nach den Toten von Magdeburg abgesagt, aber sechs Tage später nachgeholt.

Ähnlich verhielt es sich mit den Wetter-Katastrophen des Jahres, die zu Fluten wie in Spanien führten. Dass es das Jahr mit der höchsten Durchschnittstemperatur seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 war, wurde Ende Dezember in den Nachrichten fast emotionslos registriert. Bleibt die Frage, wie sich das Jahr in Live-Sendungen, in Dokumentationen und Dokumentarfilmen spiegelte.

Eine ungewöhnliche Rede

Die Nachricht erwischte die Fernsehsender auf dem falschen Fuß. Als am Abend des 6. November die Nachrichtenagenturen meldeten, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerade Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen habe, was den Bruch der regierenden Koalition aus SPD, FDP und Grünen bedeutete, reagierten sie unterschiedlich schwerfällig. Das ZDF sendete weiter "Aktenzeichen XY", während das Erste in einem "Brennpunkt" über den Wahlsieg von Donald Trump in den USA berichtete, der seit dem Morgen feststand. Gegen 20.30 Uhr wurde Moderatorin Ellen Ehni in einem Interview fahrig und schaute in die falsche Kamera, als sie "aus Gründen aktuell" eine Schaltung nach Berlin zu Markus Preiß ankündigte. Doch der wusste zu diesem Zeitpunkt nichts Genaues. So ging es erst mal weiter mit den USA, ehe Sandra Maischberger mit ihrer vorgezogenen Talkshow kurz das Programm übernahm.

Wenig später stieg das ZDF aus der Verbrecherjagd aus und übernahm, was im Streaming von "ZDF heute live" zu sehen war. Als um 21.35 Uhr der Bundeskanzler vor die Kameras trat, dauerte es einige Sekunden, ehe das ZDF dorthin schaltete. Noch länger brauchte man im Ersten.

Streit der Koalition in den Talkshows

Die Rede von Scholz war aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Zum ersten Mal kündigte ein Kanzler live im Fernsehen einem seiner wichtigsten Minister und provozierte so das Ende seiner Regierung. Dann rechnete Scholz, der eher als bedächtiger, tendenziell langweiliger Redner gilt, in scharfen Worten mit Lindner und seiner Politik ab. Der Zauderer, als den man Scholz seit Jahren bezeichnet, schaltete sichtbar in den Modus des kommenden Wahlkampfs.

Kurz danach warf man Scholz vor, dieses Fernsehereignis inszeniert zu haben. Tatsächlich las Scholz den Text ab und man hörte ihm an, dass er geprobt hatte. Der Vorwurf brach aber in sich zusammen, als wenige Wochen später ein mit militärischen Floskeln ("Feldschlacht") durchsetztes Geheimpapier der FDP bekannt wurde, in dem zu lesen war, wie die Partei das Scheitern der Koalition provozieren wolle. Das erklärte im Nachhinein manchen Streit der Koalition, der oft genug in den Talkshows von "Markus Lanz" und "Maybrit Illner" (beide ZDF) oder "Caren Miosga" und "Maischberger" (beide ARD) ausgetragen wurde.

Auf Anne Will folgte Caren Miosga

Medial schien die Koalition schon im Herbst zu Ende. Für manche sogar noch früher: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) bezeichnete am 9. November im Rückblick die Koalition als "Fehlkonstruktion", während die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) meinte, die Beziehung der drei Parteien sei von Anfang "toxisch" gewesen. Vielleicht hängt das Ende auch damit zusammen, dass die Koalitionäre den Beginn in Selfies und in demonstrativen TV-Auftritten viel zu schön gemalt hatten. Dem konnten sie in der politischen Praxis kaum gerecht werden. Und wurde die Koalition aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grünen (grün) nicht auch von den Medien durch das Wort "Ampel" gleichsam verkindlicht und nicht ernst genommen?

Zu Beginn des Jahres hatte Caren Miosga die sonntägliche Talkshow der ARD von Anne Will übernommen und sie traditionell mit ihrem Namen überschrieben. Damit nicht genug. Die ARD gestattete der Moderatorin, dass sie ihre Sendung permanent am linken Bildrand mit einem eigenen grafischen Kürzel kennzeichnen darf, was sonst nur Sender tun. Anders als Anne Will widmet sich Caren Miosga in fast jeder Sendung zunächst nur einem Gast, den sie nicht nur zu einem Thema examiniert, sondern zugleich als Person erkunden will. Das geht nicht immer gut.

Das Phänomen Sahra Wagenknecht

Die auf eine Charakterisierung abzielenden Fragen nutzte am 21. April der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla zur Eigenwerbung und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz am 13. Oktober zu einer ungewohnten Charmeoffensive. Erst Christian Lindner nahm die Gastgeberin am 1. Dezember nach Bekanntwerden des FDP-Geheimpapiers in die Mangel. Nie sah man den Medienprofi, dem es am 22. Februar gelungen war, zeitgleich in den "Tagesthemen" und im "Heute-Journal" - einmal live und einmal aufgezeichnet - zu erscheinen, so hilflos wie in diesem Gespräch.

Dass das Fernsehen nicht nur von politischen Phänomenen berichtet, sondern sie mitunter forciert, konnte man an einer Partei erkennen, die sich bei ihrer Gründung am 8. Januar schlicht nach ihrer Spitzenfrau benannte: Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die Politikerin, die lange Zeit den Kurs der Linken mitbestimmte, ist eine im Fernsehen überpräsente Person, die Themen zuzuspitzen und Pointen zu setzen versteht. Zugleich birgt ihre Politik mit klassisch rechten wie linken Themen ein Rätsel, das Journalisten gerne lösen wollen - etwa in der Dokumentation "Trotz und Treue - Das Phänomen Sahra Wagenknecht" (ARD/MDR) von Henrike Sandner, in "Die Wagenknecht-Story - Rebellin, Realistin, Populistin" (ZDF) von Falko Kurth oder in der fünfteiligen Serie "Inside Bündnis Wagenknecht" (ZDF) von Christiane Hübscher und Andrea Maurer.

Die Ursachen des Erfolgs

Doch egal, wie kritisch die Sendungen gehalten waren, sie vermehrten zunächst die Bekanntheit der Partei und festigten den Ruf ihrer Gründerin. Im Herbst kam das BSW bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg überall auf mehr als zehn Prozent der Stimmen.

Auch die Bemühungen des Fernsehens, die AfD als problematische, da teilweise rechtsradikale Partei zu entlarven, die in einer Reihe von Dokumentationen und Talkshows unternommen wurden, scheiterten ausweislich der Wahlen in den Bundesländern, aus denen die Partei als zweitstärkste (Brandenburg, Sachsen) oder gar stärkste Kraft (Thüringen) hervorging. Dass sie in Thüringen, wo sie mit dem Vorsitzenden Björn Höcke deutlich rechtsextreme Positionen vertritt, sogar ihr bestes Ergebnis erzielte, ist nicht nur ein Warnsignal, sondern zugleich ein Zeichen, dass die Ursachen ihres Erfolges noch nicht begriffen sind. Kann es sein, dass die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer rechtsextremistischen Gesinnung gewählt wird? Weil sie keine Lösung für Probleme verspricht, sondern Erlösung aus einer empfundenen misslichen Lage?

Musk wirkte wie die Reinkarnation aller Bösewichte, gegen die James Bond in seinen Filmen kämpfte.

Wenn es nach all den Berichten und Dokumentationen, die seit dem Sommer in großer Zahl ausgestrahlt wurden, gegangen wäre, hätte es Tage dauern müssen, bis das Ergebnis der US-Wahl, die am 5. November stattfand, feststand. Doch sie ging nicht knapp aus, sondern klar. So hieß es bereits am nächsten Tag, dass Donald Trump über seine Konkurrentin Kamala Harris triumphiert hatte und nun zum zweiten Mal US-Präsident wird.

Hatten die Korrespondentinnen und Korrespondenten die politische Stimmungslage in den Bundesstaaten falsch eingeschätzt? Oder hatten sie ihre Wünsche als Prognosen ausgegeben? Besonders bizarr war der Irrtum, dass das Votum der weltweit erfolgreichsten Popsängerin Taylor Swift für Kamala Harris zur Niederlage von Trump führen könnte. "Der Taylor-Swift-Effekt", den eine Arte-Dokumentation noch am 1. November prophezeit hatte, verpuffte. Zu untersuchen wäre, welche Rolle die Plattform Twitter gespielt hat, die deren Besitzer Elon Musk für Trump-Propaganda eingesetzt hatte. Musk wirkte in den Tagen nach der Wahl wie die Reinkarnation aller Bösewichte, gegen die James Bond in seinen Filmen kämpfte.

Betroffenheit nutzt sich ab

Trumps Sieg war ein weiterer Erfolg eines nationalistischen Populisten in einem Nato-Staat. Zuvor hatten bei Parlamentswahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Österreich rechte populistische Parteien kräftig hinzugewonnen. Auch bei den Wahlen zum Europa-Parlament verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung der populistischen Parteien. Mahnende Dokumentationen wie "Endspiel um Europa - Die Europäische Union am Scheideweg" (Arte/BR) oder "Europa, die Wahl und wir" (ARD/WDR) verhinderten in Deutschland nicht, dass die AfD auch bei dieser Wahl zur zweitstärksten Partei heranwuchs.

Der Krieg in der Ukraine war fast täglich Thema in den Nachrichten und in einer Vielzahl von Dokumentationen, die aufzuzählen hier den Rahmen sprengen würde. Aber es hat den Anschein, dass all die Filmbilder vom Kriegsgeschehen, all die Politiker-Statements, die für die Solidarität mit dem überfallenen Land werben, und die vielen Auftritte des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einer gewissen Ermüdung diesem Thema gegenüber geführt haben.

Betroffenheit als Gefühl nützt sich rascher ab, als viele Fernsehleute denken. Das gilt auch für die täglichen Gewalt-Bilder aus dem Gaza-Streifen, wo Israels Militär Häuser beschießt, Menschen tötet und eine humanitäre Katastrophe herbeiführt, ohne die Geiseln, die sich weiter in der Hand der Hamas-Terroristen befinden, zu befreien. Über die rechte, partiell rechtsextreme Regierung Israels unter Benjamin Netanjahu klärte zu Beginn des Jahres das Buch des israelischen Historikers Moshe Zimmermann "Niemals Frieden? Israel am Scheideweg" auf. Der Autor steht für jene Israelis, die weiterhin gegen die Politik von Netanjahu protestieren, während es so etwas wie Protest gegen die Mordexzesse der Hamas im arabischen Raum nicht zu geben scheint.

Telefongespräche russischer Soldaten

Vielleicht bedarf es anderer ästhetischer Mittel, um gelegentlich den Schrecken dieses Kriegs wieder in Erinnerung zu rufen. Das gelang dem Dokumentarfilm "Abgehört" von Oksana Karpovych (Arte), der auf Kriegsszenen verzichtete. Stattdessen zeigt er in starren Einstellungen zerstörte Häuser oder demolierte Wohnungen. Unter diese sorgfältig kadrierten Bilder wurden im Ton Telefongespräche russischer Soldaten, die in der Ukraine eingesetzt sind, gelegt.

Diese Telefonate wurden vom ukrainischen Geheimdienst im Jahr 2022 abgehört. In ihnen berichten die Soldaten von hohen Verlusten, aber auch von Hinrichtungen und von Folter an ukrainischen Gefangenen und Zivilisten. Und sie erzählen stolz, was sie stahlen, um es in die Heimat mitzunehmen. Der von einer französischen Firma produzierte Film bringt die Menschen, die angreifen, und die, die angegriffen werden, durch die Montage von Bild und Ton zusammen. Das ist erschreckend, weil die russischen Soldaten, die anonym bleiben, als Teil einer Maschinerie wirken, die einfach funktioniert, selbst dann, wenn ein Mann, der nach 60 Minuten zu hören ist, daran hörbar verzweifelt.

Prominenz als Faktor

Um Aufmerksamkeit für bestimmte Themen zu generieren, verpflichten die Sender zunehmend Fernseh-Prominente. So fragte in der ARD "Tagesthemen"-Moderatorin Jessy Wellmer kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen "Machen wir unsere Demokratie kaputt?" und ihr Kollege Ingo Zamperoni im November "Wirklich noch mal Trump, Amerika?".

Der Unterhaltungsmoderator Eckart von Hirschhausen zeigte sich in diesem Jahr zweimal in Reportagen zu Themen aus seinem Erstberuf als Arzt: "Hirschhausen - Medizin von morgen" (ARD/MDR/WDR/RBBB) und "Hirschhausen und der lange Schatten von Corona" (ARD/WDR). Bei aller Eitelkeit, sich selbst im Bild zu zeigen, ist das Engagement des Mannes zu loben, den Folgen der Pandemie weiter nachzugehen, in einer Zeit, in der andere kaum noch darüber sprechen wollen.

Ähnliches gilt für den Schauspieler Benno Fürmann, der sich in einer Reportage der "Ostsee am Limit" (ARD/MDR) widmete, und den ehemaligen Skifahrer Felix Neureuther, der die ökologische Lage der Bergwelt im Film "Felix Neureuther - Spiel mit den Alpen" (ARD/BR) kritisch in Augenschein nahm. Horst Lichter, der Allzweckmann des ZDF, wiederum staunte auf seinen "Traumrouten" wortreich über Norditalien und Mallorca.

Ungewöhnliche Programmaktionen

Zugleich nahm die Zahl an Dokumentationen zu, die Personen feiern, die in der medialen Öffentlichkeit eine gewisse Bekanntheit erreicht haben. Mitunter fallen sie groß aus wie im Dezember die Porträts "Hape Kerkeling - Total normal" (ARD/WDR/SWR/RB/NDR), "Der 20 Millionen Mann: Entertainer Heinz Schenk" (HR/SWR) und "Udo!" (ARD/BR/NDR) über den Sänger Udo Jürgens. Während die Schenk-Dokumentation in zwei Dritten Programmen (HR und SWR) zu sehen war, folgte dem Kerkeling-Porträt im Ersten am 9. Dezember noch der Spielfilm "Der Junge muss an die frische Luft", der auf einem autobiografischen Roman des Entertainers beruht. Vor dem Jürgens-Film wurde am 23. Dezember im Ersten die Aufzeichnung eines Konzerts gezeigt, in dem sich Sängerinnen und Sänger an den Liedern des österreichischen Chansonniers versuchten.

Das Entertainer-Duo Joko und Klaas setzte seine Prominenz wieder mehrfach für ungewöhnliche Programmaktionen bei ProSieben ein: So übernahmen sie am 21. April einen Tag lang das Programm von ProSieben, probierten dort neue Formate aus und kramten alte aus den Archiven. Am Ende des Jahres, im Dezember, spendeten sie die von ihnen gewonnene Sendezeit den Politikern Robert Habeck, Friedrich Merz und Olaf Scholz, die in dieser Reihenfolge für einen fairen Umgang miteinander im Wahlkampf warben.

Der letzte Kaiser

Jan Böhmermann verlor zwar manchen Prozess um Aussagen, die er in seiner Sendung "ZDF Magazin Royale" getätigt hatte, überraschte aber hin und wieder mit monothematischen Ausgaben, die eine gewisse Relevanz hatten wie am 20. September, als er sich um Gratiszeitungen kümmerte, die unverhohlen für die AfD werben. Zu Beginn des Jahres feierte seine Produktionsfirma die Geschichte des Grundgesetzes in einem witzigen und sehr liebevollen Zeichentrickfilm.

Franz Beckenbauer starb Anfang des Jahres, er war der Sport-Prominente schlechthin. Am Tag danach, am 8. Januar, strahlte die ARD eine Dokumentation von Philipp Grüll und Christoph Nahr über ihn aus, die bereits seit dem 2. Januar in der ARD-Mediathek zu sehen war. Am Ende des Jahres konnte man in der Arte-Mediathek eine dokumentarische Trilogie mit dem Titel "Beckenbauer. Der letzte Kaiser" von Torsten Körner abrufen, die der Kultursender in einer "internationalen Fassung" am 7. Januar 2025 ausstrahlte. Das ZDF zeigt am 12. Januar eine 90-Minuten-Version der Dokumentation, die in ganzer Länge im November bereits bei Magenta zu sehen war.

Spektakel der Bilder und Klänge

Das Fernsehjahr wurde entscheidend durch große Sportereignisse wie die Olympischen Sommerspiele in Paris und die Fußball-Europameisterschaft der Männer in Deutschland geprägt, von denen viele Stunden live übertragen wurden. Die Faszination reichte über die Sportgemeinde hinaus. Vor allem die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele, die nicht wie üblich in einem Stadion stattfand, sondern mitten in Paris auf und an der Seine, war ein wunderbares Spektakel der Bilder und der Klänge.

Ein Höhepunkt war der Aufritt der aus Mali stammenden R&B-Sängerin Aya Nakamura, die gemeinsam mit der Kapelle der Republikanischen Garde auftrat und die sonst eher hüftsteifen Musiker in ihrer Militärkleidung zum Tanzen brachte. Für Aufregung sorgte eine Szene, die manche als das Nachstellen des Gemäldes "Das letzte Abendmahl" von Leonardo da Vinci ansahen, die sich aber bei näherem Hinsehen aber als Imitation des Bildes "Fest der Götter" von Jan van Bijlert entpuppte. Was als blasphemisch begriffen wurde, war ein - durchaus freches - Spiel mit Zitaten der Bildenden Kunst wie in anderen Szenen der Eröffnungsfeier auch.

Kritische Sport-Dokumentationen

Da während der Feier mehrfach queere Menschen auftraten, wurde hier nicht nur der Sport gefeiert, sondern auch gesellschaftliche Diversität. Von der war aber dann in den Wettbewerben nicht mehr viel zu sehen. Warum dies so ist, untersuchte der Film "Queer gewinnt - Eine Sportutopie" von Julia Fuhr Mann (3sat). Zuvor war im Frühjahr das Buch "Dabei sein wäre alles" von Martin Krauss erschienen, der die lange Geschichte des Ausschlusses von Menschen von Sportwettbewerben untersucht hatte.

Die kritische Begleitung großer Sportereignisse durch Dokumentationen ist zu einer guten Gewohnheit geworden. So strahlte die ARD kurz vor der Fußball-Europameisterschaft der Männer die Dokumentation "Einigkeit und Recht und Vielfalt - Die Nationalmannschaft zwischen Rassismus und Identifikation" von Philipp Awounou aus.

Im November gab die Deutsche Fußball Liga (DFL) bekannt, wie ab August 2025 die Übertragungsrechte der Bundesliga aufgeteilt werden. Es gab nicht viele Neuerungen. So wechseln sich Sky und DAZN weiterhin bei den Live-Übertragungen ab, nur in einer anderen Abfolge. ARD und ZDF zeigen auch in Zukunft als erste die zusammenfassenden Berichte. Um den teuren Spaß zu refinanzieren, installierte DAZN im Lauf des Jahres eine eigene Wettfirma, so dass man auf der Suche nach der Live-Übertragung eines Fußballspiels auf der Internetplattform des international tätigen Streamingdienstes auf die Möglichkeit hingewiesen wird, dass man auf eben dieses Spiel wetten kann.

Wenig historisches Bewusstsein

Die Kopplung eines Films oder Konzerts mit der Dokumentation über den prominenten Menschen, der im Film oder im Konzert zu sehen ist, hat die ARD von Arte übernommen. Der Kultursender präsentiert solche Kopplungen mindestens einmal die Woche. So gab es dort in diesem Jahr - in Erstausstrahlung oder als Wiederholung - Porträts von Musikern wie Miles Davis, Joan Baez, Syd Barrett & Pink Floyd, Bob Marley, Eric Clapton und Bands wie The Who, Air oder Fleetwood Mac, von Schauspielerinnen und Schauspielern wie Bruce Lee, Esther Williams, Uma Thurman, Sophia Loren, Jane Fonda, Brad Pitt, Jamie Lee Curtis, Peter Lorre und Udo Kier, von Filmregisseurinnen und Regisseure wie Kathryn Bigelow, Doris Dörrie und Andreas Dresen, von dem Maler Daniel Richter, von der Schriftstellerin Elfriede Jelinek oder dem Schriftsteller Italo Svevo zu sehen: Und damit sind noch nicht alle genannt.

Beliebt waren in diesem Jahr auch popmusikalische Mehrteiler: "Hiphop - Made in Germany" (NDR/SWR), "Hamburger Schule - Musikszene zwischen Pop und Politik" (NDR), "Millennial Punk - Eine Subkultur in Zeiten der Digitalisierung" (SWR) oder "Disco - Soundtrack eines Aufbruchs" (Arte). Diese Dokumentationen, die vor allem für die ARD-Mediathek produziert werden, fallen aber vor allem dadurch auf, dass sie jüngere Protagonistinnen und Protagonisten der jeweiligen Musikszenen präsentieren, die wenig Bewusstsein für die historischen Entwicklungen des Genres zeigen.

Verspieltes Magazin

Mitunter sind die Fans der jeweiligen Musikrichtungen untereinander so zerstritten, dass jede Darstellung unter Kritik gerät. So tobte über Wochen ein Meinungskampf, inwieweit der Zweiteiler über die "Hamburger Schule", also Bands wie Blumfeld oder Tocotronic, die Geschichte richtig erfasst oder nicht. Ein Vorwurf: Der Musiker Bernd Begemann sei aus dem Gesamtbild der Szene, die die Dokumentation von Natascha Geier herstellt, "retuschiert" worden. Das weckte Assoziationen an die Geschichtspolitik Stalins, der einst seinen Widersacher Trotzki aus den Darstellungen der Oktoberrevolution entfernen ließ.

Ein halbes Jahr, nachdem ihre neue Platte "Lives Outgrown" herauskam, spielte Beth Gibbons Songs daraus in der französischen Nationalbibliothek in Paris ein. Zu sehen war das Konzert in der verdienstvollen Arte-Reihe "Passengers", die das Programm des Kultursenders ebenso schmückt wie "Karambolage". Dieses wunderbar verspielte Magazin, das Unterschiede zwischen der deutschen und französischen Sprache und Kultur benennt und erklärt, feierte im März sein 20-jähriges Bestehen mit einer Doppelausgabe, in der die Erfinderin und Redakteurin Claire Doutriaux die Schriftstellerin Germaine de Staël würdigte.

Wirkliche Verbrechen

Gekocht wurde weiterhin in vielen Show-Formaten vieler Sender. Heraus stach der Sechsteiler "Alles außer Kartoffeln: Menschen. Küche. Heimat" (BR/HR/SWR/WDR), der über Kochtraditionen von Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kamen, aufklärt.

In Zeiten von Fake News muss - so hat es den Anschein - das Echte und Wahre an Dokumentationen betont werden. True Crime gibt es schon lange, nicht nur in Magazinen und Podcasts. Das Format, das von realen Verbrechen handelt, boomt weiterhin auch im Fernsehen. In der Regel werden hier Verbrechen szenisch nachgestellt. Allerdings nicht mit den Mitteln des Fernsehfilms oder der Fernsehserie, sondern mit den ungleich bescheideneren von Dokumentationen. Das Muster dieser Nachinszenierung hatte 1967 Eduard Zimmermann für das ZDF für die bis heute laufende Reihe "Aktenzeichen XY" entwickelt.

Bei den neuen True-Crime-Formaten führt meist eine Erzählerin oder ein Erzähler durch die Geschichte des jeweiligen Verbrechens. In der Reihe "Schuld & Sühne" (ZDF) ist die Podcasterin Paulina Krasa immer wieder im Bild zu sehen. In der Reihe "ARD Crime Time" hingegen ertönt die Erzählstimme aus dem Off. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit rhetorischen Fragen wie "Was ist hier los?" oder Bemerkungen wie "Es bleibt spannend für alle Beteiligten" die Aufmerksamkeit hochhalten wollen. Dem gleichen Zweck dienen auch die permanent unterlegte Musik, die mal Spannung forciert, mal Mitleid wecken will, sowie der Einsatz von Drohnen, die schöne Landschaftsbilder der Schreckensorte liefern.

Systemische Gewalt gegen Frauen

Die Taten werden nachgestellt, aber nur in unscharf gestellten und verlangsamten Bildern angedeutet. Veristisch wird die Gewalt allein im Kommentar geschildert, der sich aber immer wieder selbst zügelt. Paulina Krasa sagt dann beispielsweise "Einzelheiten erspare ich Euch". Wichtig ist fast immer, dass die Verbrechen die bürgerliche Umgebung überraschen. Systemische Gewalt gegen Frauen in der Ehe oder in der Partnerschaft sind in diesen True-Crime-Serien nur selten Thema; die Täter kommen meist von außen.

Anders in der Realität: Die "Tagesschau" machte am 19. Dezember mit dem Urteil in einem Vergewaltigungsprozess auf, der in Frankreich stattgefunden hatte. Dort hatte ein Mann seine Frau regelmäßig betäubt, vergewaltigt und durch 50 weitere Männer vergewaltigen lassen. Das Opfer Gisèle Pelicot hatte auf Öffentlichkeit bestanden, so dass die Tragweite des Verbrechens auch in Deutschland bekannt wurde.

Radikale Filme

Der größte Unterschied von True Crime zu fiktionalen Kriminalfilmen besteht darin, dass die Fälle bis zum Prozess behandelt werden, ja, dass ihre Erzählungen auf das Urteil letzter Instanz geradezu hinauslaufen.

Umgekehrt besteht die Qualität fiktionaler Darstellung darin, dass sie imaginieren kann, was im Innern von Tätern wie Opfern abläuft. Das konnte man gut an vier sehr unterschiedlichen Fernsehfilmen studieren, die nach dem erfolgreichen Podcast von "Zeit Verbrechen" geschrieben und inszeniert wurden: "Dezember" von Mariko Minoguchi, "Deine Brüder" von Helene Hegemann, "Der Panther" von Jan Bonny und "Love by Proxy" von Faraz Shariat. Sie waren von Paramount+ in Auftrag gegeben worden. Doch noch vor der Uraufführung der Filme auf der Berlinale hatte der Streamingdienst seine Strategie geändert, so dass er auf eine Ausstrahlung verzichtete. Nun sicherte sich RTL+ die Rechte der Filme und zeigte sie ab 6. November.

Zu sehen waren radikale Filme, die mit dem Erkläransatz von True Crime nichts zu tun hatten, sondern eher das Erratische von Verbrechen betonten. Wer hoffte, dass mit Aufkommen der vielen True-Crime-Formate die Zahl der fiktionalen Fernsehkrimis abnehmen würde, irrte. Beide Varianten der Verbrechenserzählung scheinen sich eher wechselseitig zu stimulieren.

Nach einer wahren Geschichte. Soweit Geschichte wahr sein kann.

Das Nachinszenieren realer Ereignisse war lange Zeit die Domäne des Doku-Dramas, wie Heinrich Breloer und Horst Königstein es in Deutschland durchsetzten. Ungewöhnlich war der Versuch von "Die Mutigen 56 - Deutschlands längster Streik" (ARD/NDR/RB/SWR), einen Arbeitskampf zu rekonstruieren.

In der vierteiligen Serie "Herrhausen - Der Herr des Geldes" (ARD/Degeto) erzählten Pia Strietmann und Thomas Wendrich die Geschichte des ermordeten Sprechers der Deutschen Bank und des Attentats auf ihn. Das Changieren zwischen inszenierter und dokumentarischer Darstellung wird im Vorspann angekündigt, wo rot auf schwarz zu lesen ist: "Nach einer wahren Geschichte", ehe dann der zweite Satz eingeblendet wird: "Soweit Geschichte wahr sein kann." Der Vierteiler folgt, so kann man diese Ankündigung deuten, den realen Ereignissen und zeichnet so ein durchaus widersprüchliches Geschichtsbild der Bundesrepublik des Jahres 1989. Er erlaubt sich aber auch Interpretationen und Beifügungen, gerade was die subjektive Sicht der Beteiligten angeht.

Bei der Darstellung der Tat selbst hält sich die Serie zurück, zeigt von weitem, wie der Wagen durch die Explosion eines Sprengsatzes getroffen wird. Aber im ersten Teil wird eine Szene eingeblendet, in der Terroristen eine Sitzung stürmen und viele der Anwesenden erschießen. Diese in veristischen Details geschilderte Gewalt wird als Traum von Herrhausen ausgegeben. Man kann das als quid pro quo deuten, der Verzicht auf die Darstellung der realen Gewalt wird durch die einer imaginären kompensiert.

Künstlich generierte Bilder

Die größte Gefahr scheint der wahren Darstellung der Wirklichkeit derzeit durch das zu drohen, was Künstliche Intelligenz (KI) genannt wird. Damit werden summarisch technische Verfahren bezeichnet, die Bilder und Texte autonom durch eine Software generieren, die auf all das zugreift, was im Internet und anderen Archiven an Material zugänglich ist. "Kann KI die Demokratie retten?" fragte beispielsweise Linda Zervakis in einer Presenter-Reportage bei ProSieben.

Die Dokumentation "Künstliche Musik - Die KI-Revolution im Pop" (3sat) von Hanna Langreder und Karsten Gravert zeigte, dass der Einsatz von KI in der Produktion populärer Musik längst gang und gäbe ist. "Sprechende Schweine - KI übersetzt Tiersprache" war eine Dokumentation von Miki Mistrati (NDR) überschrieben. Und die komische Web-Serie "Prompt" in der Arte-Mediathek führt in kurzen Filmen vor, auf welchen Feldern KI eingesetzt werden kann.

Im Projekt "Das KI-Manifest", das Paulina Bietz im Auftrag des Kleinen Fernsehspiels (ZDF) realisierte, tauschen sich die Schauspielerin Gizem Emre, der Regisseur und Drehbuchautor Christian Alvart, die Regisseurin Mira Thiel und der Produzent Guido Reinhardt einen Tag lang vor Kameras über KI aus. Fachleute wie eine Ethikprofessorin, ein Anwalt und ein Informatiker beraten sie bei ihrer Reflexion. Am Ende kommt ein Manifest heraus, das auf Regeln im Umgang mit KI in der Medienbranche drängt. Das ist gut gemeint, birgt aber wenig Überraschungen.

Mob, der Menschen jagt

Einmal muss man lachen, als Christian Alvart ein Serien-Drehbuch, das von einem Menschen verfasst wurde, daran erkennt, dass es einen Rechtschreibfehler enthält. Sonst unterscheidet es sich kaum von KI-generierten Drehbüchern. Kein Wunder, werden doch die meisten Serienfolgen nach simplen Dramaturgie-Regeln verfasst.

Andere Sendungen bilanzierten Mängel und Folgen der Medien-Innovationen von gestern oder vorgestern: Die Dokumentation "Das Cybermobbing-Kartell" von Christoph Kürbel (ARD/WDR) beschreibt Fälle, in denen das Internet zum Handlungsort von Hetze gegen einzelne Personen wird. Die anonyme Masse der Nutzer bestimmter Plattformen wird zum Mob, der Menschen jagt.

Die vierteilige Dokumentarserie "WTF is Jule?" (ZDF) von Lorelei Holtmann und Laura-Jasmin Leick rekonstruiert, wie ein Mann über viele Jahre einen Blog betrieb, in dem er sich als behinderte junge Frau mit dem Spitznamen "Jule Stinkesocke" ausgab. Dieser Blog hatte viele begeisterte Leserinnen, von denen nicht wenige wie die angebliche Bloggerin im Rollstuhl saßen. Er gewann Preise und Anerkennung, weil er sich für die Interessen von Menschen mit Handicap einzusetzen schien. Was zunächst wie ein Spiel mit einem leichtgläubigen Publikum wirkte, hatte eine finstere Kehrseite. Der Betreiber phantasierte auch über körperliche Erfahrungen der Frau, als die er sich ausgab, und tauschte sich in Chats mit Leserinnen über intime Dinge aus. Ein Vertrauensmissbrauch, der bei den Betroffenen Spuren hinterließ.

Bemerkenswerte Gruppenporträts

Der Film "Abgehört" hat im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg daran erinnert, was der klassische Dokumentarfilm, der durch die Handschrift von Regisseurinnen und Regisseuren geprägt ist, im Unterschied zur konfektionierten Dokumentation vermag. Leider findet diese besondere Filmform immer seltener im laufenden Fernsehprogramm statt. Einen Unterschlupf bietet immer noch die Redaktion "Kleines Fernsehspiel" im ZDF.

Es produzierte unter anderem zwei bemerkenswerte Gruppenporträts: In "Polizeiakademie" von Moritz Schulz werden zwei Polizeischülerinnen und ein Polizeischüler in der letzten Phase ihrer Ausbildung begleitet. Alle drei stammen aus Familien, die einst nach Deutschland einwanderten. Dass sie die entscheidende Prüfung bestehen, ist auch der Beweis eines sozialen Aufstiegs. Zugleich hält der Film fest, wie die drei bei Einsätzen immer wieder ausländerfeindlich beschimpft werden, weil sie anders aussehen oder anders heißen. Besonders beeindruckend ist eine Szene, als sie lernen sollen, einen Familienvater über den Tod der Tochter zu informieren. Man spürt die Last der Verantwortung selbst in der Übungssituation.

In "Die Schule der Frauen" von Marie-Lou Sellem treffen sich fünf Frauen wieder, die einst gemeinsam an der Folkwang-Schule in Essen Schauspiel studierten. Nun blicken sie auf ihre unterschiedlichen Karrieren zurück und bilanzieren Erfolge wie Misserfolge. Zugleich berichten sie von Momenten, in denen sie von Männern diskriminiert, reduziert oder klein gehalten wurden. Sie schildern aber auch, wie sie sich wehrten und sich durchzusetzen lernten.

Die Folgen der Klimakatastrophe

Auch der Kultursender 3sat, der von ZDF und ARD gemeinsam mit der schweizerischen SRG und dem österreichischen ORF betrieben wird, pflegt weiterhin den Dokumentarfilm. Beispielsweise durch kluge Programmierung von Wiederholungen. Unter den Neuproduktionen fielen zwei Umweltstudien auf. In "Wind - Die Vermessung des großen Luftozeans" geht Alexander Riedel dem Zusammenhang des weltweiten Wetters nach und legt so überzeugend dar, weshalb es gewaltiger Anstrengungen bedarf, um die Klimakatastrophe, die kaum noch abzuwenden ist, wenigstens zu lindern.

Als Fachmann wirkt auch Özden Terli mit, der im ZDF über das aktuelle Wetter informiert. So kann man miterleben, wie Fernsehen funktioniert: der Moderator sagt seinen Text vor einer Greenscreen auf und kann nur auf einem seitlich postierten Monitor kontrollieren, ob seine Hand auf die richtigen Stellen der einkopierten Grafik hinweist.

Beeindruckende Bilder

In "Matter Out Of Place" hält Nikolaus Geyrhalter Szenen der weltweiten Müllbeseitigung fest. Zu sehen ist, welche Berge an Abfall die Menschen überall erzeugen, und wie mühsam es ist, diesen einzusammeln, zu vergraben und zu verbrennen. Und welche Spuren er noch nach Jahrzehnten hinterlässt. Der auf jeden Kommentar verzichtende Film versammelt beeindruckende Bilder, denen jenseits des Schreckens eine gewisse Faszination eigen ist.

An diese besondere Leistung von 3sat werden sicher manche gedacht haben, als im Herbst Pläne in den Staatskanzleien laut wurden, dass der Kultursender in Arte aufgehen soll. Damit wäre gerade auf dem Feld des Dokumentarfilms eine weitere Reduktion zu befürchten gewesen. Am Ende des Jahres stellte sich heraus, dass man die internationalen Konstruktionen beider Sender nicht so einfach aufheben oder gar ineinander überführen kann.

Landschaft als Kulturraum

Als der RBB im Juni den Film "Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges" von Volker Koepp ausstrahlte, kam jemand in der ARD auf die gute Idee, weitere Filme des Dokumentarfilmers in der Mediathek zu versammeln. So konnte man das Jahr über besonders die Filme studieren, in denen Koepp nach 1990 die Landschaften Osteuropas erkundete. Er folgt keinen Ländergrenzen, sondern erfasst oft transnationale Landschaften. Verblüffend, wie sich in den Gesprächen, die Koepp stets mit großer Gelassenheit vor der Kamera führt, Vergangenheit und Gegenwart kreuzen, ja, wie Zukunftsängste Auseinandersetzungen vorwegnehmen, die erst Jahre später ausbrechen.

Seine beeindruckenden Landschaftstotalen lassen denen, die seine Filme in Ruhe betrachten, Zeit, selbst auf Details von Vegetation oder Architektur zu achten. Klug bindet der Regisseur auch immer wieder literarische Zitate ein, so dass sich die jeweilige Landschaft zu einem Kulturraum weitet.

Die Anforderungen an Mütter

Unter den aktuellen Dokumentarfilmen, die von der ARD in diesem Jahr erstausgestrahlt wurden, ragte "Mutter" (ARD/WDR) von Carolin Schmitz heraus. Der Film basiert auf Tonbandmitschnitten von Gesprächen, die die Regisseurin mit acht Frauen zwischen 30 und 70 Jahren über ihr Leben als Mutter führte. Um die Anonymität der Frauen zu wahren, übernahm Anke Engelke in Spielhandlungen ihre Rollen. Sie ist in Alltagsszenen zu sehen, in denen sie Hausarbeit verrichtet, arbeitet, unterwegs ist oder auch einfach nur innehält. In diesen Szenen tut die Schauspielerin so, als spräche sie das, was die Frauen der Regisseurin anvertraut hatten, in die Kamera. Das gelingt Anke Engelke so gut, dass man sich rasch daran gewöhnt, dass die Frauen durch die Schauspielerin gleichsam hindurchsprechen.

Durch diese Darstellungsweise weiten sich die autobiografischen individuellen Schilderungen zu einer Kollektivgeschichte von Müttern, die von männlicher Gewalt und Zuweisung, von Einsamkeit, von der Wucht der Enttäuschungen und vom permanenten Selbstzweifel handelt. Zugleich entspricht die Dauerpräsenz von Anke Engelke im filmischen Bild der ständigen Anforderung an die Mütter, von der alle befragten Frauen berichten. Es sind Anforderungen, die explizit durch die Männer und Väter, aber auch durch das soziale Umfeld an die Mütter gerichtet wurden. Und es sind Anforderungen, welche die Frauen an sich selbst richteten.

Unbestrittene Qualität

Das lineare Fernsehen verlor weiter Nutzungszeit an die Streaming-Portale, die sich ihrerseits mit Live-Übertragungen und Werbeunterbrechungen dem linearen Programm anpassten. Denn noch dominiert das lineare Programm deutlich. Ebenso ist die Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bei allen Schwächen und Unzulänglichkeiten unbestritten.

Auf diese Qualität hatten so unterschiedliche Fernsehanalytiker wie Lutz Hachmeister und Klaus Kreimeier bei aller Kritik, die sie übten, hingewiesen. Beide starben im Herbst dieses Jahres im Abstand von wenigen Wochen. Im Frühjahr war die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer gestorben, die in ihrem letzten veröffentlichten Text über Kriege und Klimakatastrophe in den Medien schrieb: "Nicht, dass dies gänzlich neu wäre, neu jedoch ist, dass wir in Informationen derart eingebettet sind, dass es keinen Standpunkt außerhalb mehr gibt. Doch gerade dies zwingt zum Weitermachen - irgendwie."

Dietrich Leder Copyright: Foto: KHM Darstellung: Autorenbox Text: Dietrich Leder war bis 2021 Professor für Fernsehkultur an der Kunsthochschule für Kunst und Medien in Köln und ist Autor von epd medien.



Zuerst veröffentlicht 07.01.2025 11:35 Letzte Änderung: 07.01.2025 15:59

Dietrich Leder

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Programm, Dokumentation, Leder, NEU

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