10.01.2025 09:16
epd Ist eine Welt ohne Gefängnisse und Strafe eine "naive Utopie" oder ein "wegweisendes Experiment"? Man muss für die Antwort auf diese Frage nicht auf Sandra Maischberger warten, denn die Talkshow zum kontroversen Thema wird in der Serie "A Better Place" gleich mitgeliefert: Amir Kaan (Steven Sowah), Oberbürgermeister von Rheinstadt, und die Rechtswissenschaftlerin Petra Schach (Maria Hofstätter), Leiterin des Resozialisierungsprogramms "Trust", werben bei Moderatorin Ann-Marie Framm (Karin Hanczewski) für ihr international beachtetes Experiment.
Eine Justizreform in Nordrhein-Westfalen hat es möglich gemacht, dass die Justizvollzugsanstalt Rheinstadt ihre Tore öffnet. Statt Straftäter wegzusperren und durch den Aufenthalt im Knast hohe Rückfallquoten zu riskieren, sollen sie durch "Trust" auf dem Weg in ein neues Leben begleitet werden. Wohnungen, Arbeits- und Therapieplätze stehen bereit, außerdem müssen entlassene Knackis zu Täter-Opfer-Mediationen erscheinen. Angeblich stehen 70 Prozent der Bevölkerung von Rheinstadt hinter diesem Pilotprojekt.
Auf die zu erwartende Konfrontation muss man dennoch nicht lange warten. Denn im Talkshow-Publikum sitzen die Eltern eines getöteten Jugendlichen. Nesrin Gül (Alev Irmak) mischt sich ein, fordert eine Erklärung, warum Klaus Bäumer (Richard Sammel), der rechtsextreme Mörder ihres 15-jährigen Sohnes, freikommen soll. Straftaten sollten keineswegs ignoriert werden, antwortet Schach. Es gehe vielmehr darum, andere Formen der Konfliktlösung zu fördern, die sich auf Wiedergutmachung konzentrieren.
Die Serie knüpft an eine lange Diskussion über den Sinn von Freiheitsstrafen an. Die Abolitionismus-Bewegung wurzelt im Kampf gegen die Sklaverei in den USA seit dem 18. Jahrhundert. Bis heute wird in der Kriminologie über den Sinn und Unsinn von Gefängnissen gestritten - auch in Deutschland. So schrieb der Augsburger Jurist und Kriminologe Thomas Galli, der zeitweise die Justizvollzugsanstalten Zeithain und Torgau leitete, im Jahr 2020 das Buch: "Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen."
Während in Wissenschaft und Praxis differenzierte Modelle diskutiert werden, schert "A Better Place" alle Straftäter über einen Kamm. Sämtliche 300 Rheinstädter Häftlinge werden entlassen und vor dem Rathaus mit Applaus, Fähnchen und Luftballons empfangen, als wären sie heldenhafte Heimkehrer. Neben Bäumer kommt auch der pädophile Sexualstraftäter Jens Föhl (Ulrich Brandhoff) frei. Das erscheint besonders abwegig, aber in der Fiktion darf die Utopie gerne radikal und die Realität unrealistisch sein.
Plakative Parteinahme kann man der Serie dennoch nicht vorwerfen. Das Regie-Duo Anna Zohra Berrached und Konstantin Bock inszeniert das in einem Writers Room entstandene Drehbuch als in der Gegenwart angesiedelte Utopie. Die fiktive Kulisse Rheinstadt verströmt den herben Charme echter NRW-Städte - das Rathaus samt Umfeld wurde im Zentrum von Leverkusen gedreht. Die Medien-Öffentlichkeit wird mit Video-Schnipseln und Social-Media-Posts einbezogen. Das wird insbesondere gegen Ende noch eine wichtige Rolle spielen.
Für die politische Ebene steht die Figur des Oberbürgermeisters Kaan, ab Folge vier übt Justizministerin Anneke Hammerschmidt (leider fehlbesetzt: Cordula Stratmann) in einer zunehmend aufgeheizten Stimmung Druck auf ihn aus. Die exzellente Kamera von Matthias Fleischer sorgt für eine hohe Intensität. Die Spannung bleibt durchgängig auf einem hohen Niveau, weil den persönlichen und familiären Konflikten ausreichend Raum gewährt wird.
Ein Überfall auf ein Juweliergeschäft, die Jagd auf "Kinderschänder" Föhl und weitere Wendungen liefern genügend Stoff für acht Episoden. Dabei die Opfer-Perspektive zu berücksichtigen, ist natürlich unumgänglich. Wie Nesrin Gül über den Verlust ihres Sohnes zu verzweifeln droht und doch wieder ins Leben zurückfindet, gehört zu den stärksten Episoden der Serie.
Die unterschiedlichen Charaktere und ihre Geschichten sorgen für Spannung und zahlreiche Wendungen. Katharina Schüttler spielt Eva Blum, die sich bei "Trust" engagiert und gleichzeitig selbst Angehörige eines Straftäters ist. Ihr Mann Mark (Johannes Kienast) gibt sich redlich Mühe, um das Vertrauen seiner Frau und der beiden Kinder zurückzugewinnen.
Was Mark eigentlich verbrochen hat, bleibt lange Zeit unklar. Fest entschlossen, sein Leben in den Griff zu bekommen, ist auch Nader Massad (Youness Abbaz), der sich als Verkäufer in einem Autohandel mächtig ins Zeug legt. Wären da nicht seine Schwester Yara (Aysima Ergün) und Naders alte Gang aus der Südstadt, die das neue Motto "Freistadt Rheinstadt" als Freibrief für weitere Überfälle missverstehen. Wer erwischt wird, bleibt dennoch auf freiem Fuß.
Als realistisches Szenario taugt "A Better Place" nicht, aber die Stärke der Serie ist die differenzierte Erzählung über Vertrauen und den Umgang mit persönlicher Schuld. Erfreulich ist, dass sich der WDR und seine Partner an das selten bespielte Genre "Social Fiction" wagen, noch dazu mit einem kontroversen Thema, das zuverlässig populistische Schaumschläger auf den Plan rufen dürfte.
infobox: "A Better Place", achtteilige Serie, Regie: Anna Zohra Berrached, Konstantin Bock, Buch: Alexander Lindh, Laurent Mercier, Karin Kaçi, Kamera: Matthias Fleischer, Produktion: Komplizen Serien (ARD-Mediathek/WDR/Degeto, seit 10.1.25, ARD, 22.1.25, 20.15-21.45 Uhr, 24.1.25, 22.20-2.50 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 10.01.2025 10:16
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), K
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