23.01.2025 08:45
epd Du liebe Güte, dass es so etwas noch gibt! So einen schmierigen, sexistischen, schamlosen, skrupellosen, abgrundtief fiesen, aufschneiderischen, abgetakelten Typen wie Gerhard, den diese Serie bei Amazons Prime Video in den Mittelpunkt stellt. "Hit- und Erfolgsproduzent" will Gerhard sein. Nennt sich selbst "Gerry Star", weil er vor Jahrzehnten einen Auftritt als Keyboarder eines inzwischen erfolgreichen Sängers hatte. Als wären wir nicht längst weg von den von ihm glorifizierten Zeiten mit "Champagner, Koks, Goldenen Schallplatten und Groupies in Unterwäsche vor dem Hotel", hängt dieser Gerry noch immer der Illusion an, er könne jedes weibliche Wesen flachlegen und/oder als Schlager-Sternchen groß rausbringen.
Igitt, will man so was sehen? Aber ja!
"Gerry Star - Der (schlechteste) beste Produzent aller Zeiten" ist das Folgeprojekt der erfolgreichen Produzenten von "Die Discounter", jener Comedy-Serie im Supermarkt-Milieu, die über inzwischen vier Staffeln läuft und unter anderem mit einem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Wieder ist es eine Mockumentary, in der die Figuren in die fingierte Doku-Kamera sprechen - respektive im Fall von Gerry: flirten, prahlen, ungeniert lügen. Das Setting ist eine Bowling-Halle und das dort handelnde Personal genauso drüber wie Gerry, nur liebenswerter.
Die dauerquarzende Becky Martaschek, die die Freizeitanlage betreibt, gibt die knallharte, knochentrockene Unternehmerin. Geht es aber um ihre Tochter Stella, ein tapsiges Riesenbaby mit Gesangsambition, wird Becky mutterweich. Gerry, den sie als "absolute Vollpfeife" identifiziert, lässt sie nur deshalb bei sich in der Halle gratis wohnen, weil er ihr weismachen konnte, dass er aus ihrem "Sternchen" die neue Britney Spears formen wird. Obwohl er von Stellas optischen Qualitäten nicht viel hält, legt sich Gerry aus Eigennutz und Angst vor dem Verlust der Wohnung ins Zeug, unerschütterlich in dem Glauben, auf einer historischen Stufe mit Napoleon Bonaparte und Alexander dem Großen zu stehen. Denn was hat er mit ihnen gemein? "Comebacks."
Weil ein Star eine Band braucht, trommelt Gerry mangels Alternativen den Koch Benjamin alias Big B (an den Keys) und den Hausmeister Michael (an den Drums) zusammen. Ausgerechnet diesem, einem wunderlichen Zausel, der Vögel liebt und mit Tauben spricht, fliegt, "Flapp, flapp, flapp", die Idee für den Song zu, den Stella beim Nachwuchswettbewerb "Deggendorfer Song Contest" aka DSC performen soll. Gerry hält das Liedchen zwar für "die größte Scheiße, die ich je gehört habe". Aber: "Wenn wir Glück haben, sind die anderen noch schlechter."
Über acht Episoden erzählt die Serie den Weg bis zum DSC-Finale. Kurvenreich und ganz schön unanständig geht es voran. Die inneren "Me too!-Alarm!"-Glocken schrillen, wenn sich Gerry etwa beim Musikvideo-Dreh mit feuchter Hose (okay, Fleckenverursacher ist nur das Käffchen) an seine Regisseurin Merle ranwanzt. Sie weiß sich zu wehren. Gut so, du modernes starkes Frauengeschöpf!
Wer Uraltwitze an der Schamgrenze für gestrig und verboten hält, hat in dieser Serie dennoch jede Menge Anlass zur Entrüstung. Die Hosen fallen, das männliche Gemächt baumelt (wenn auch verpixelt), das Toilettenhäuschen rappelt ... Was Didi, Otto und andere vor vielen Jahren in die deutsche Humorlandschaft einbrachten, feiert hier frivole Urständ. Auch vor Minderheiten macht das Autoren- und Regieduo Max Wolter und Tom Gronau nicht Halt. Das Wort "Zwergenaufstand" haben sie Gerry in den Mund geschrieben, als dieser sich mit dem kleinwüchsigen DSC-Juror anlegt. Wie lange sie im Writer’s Room mit Sensitivity Readern - sofern es die bei diesem Projekt überhaupt gab - wohl darüber gerungen haben?
Auch wer verstört ist, dass sich jemand auf dieses gestrige Humor-Level traut, findet vielleicht erleichternde Komik in Szenen wie diesen: In Vorfreude auf ein Date mit seiner Regisseurin begattet Gerry zuerst ihr Auto und zertrümmert es dann aus Versehen. Überhaupt, wie diese Vollpfeife es immer wieder schafft, sich aus den hochnotpeinlichsten Situationen herauszulavieren ("Die Baumfäller waren es!"), ist eine Stärke des Buchs - und natürlich der grandiosen Schauspielkunst von Sascha Nathan zu verdanken. Der babbelt hier hessisch und verleiht so seiner Figur Gerry zusätzlich schlüpfrige Tiefe. Er trägt die Serie fast allein.
Gegen Ende verläppert sich die Serie jedoch und endet offen. So gesehen war es keine gute Idee, die Episodenlänge von "Gerry Star" im Vergleich zu den "Discountern" fast zu verdoppeln. Wenn das Buch nicht mehr hergibt, nützt mehr Erzählzeit auch nichts. Der Erfolg des Vorgängerprojekts machte sich jedoch bezahlt: Für die Produktion konnte Pyjama Pictures neben Sascha Nathan noch bekanntere und teurere Schauspiel-Stars engagieren: Andrea Sawatzki als herrlich strubbelige Bowling-Chefin Becky, deren Sätze besser sitzen als ihre Kurzhaarperücke, Ben Becker als bierbäuchiges Ebenbild von Gerry mit noch mehr Testosteron, Robert Stadlober als Erfolgssänger, der sich an keinen Keyboarder namens Gerhard erinnern kann.
Auch die anderen Schauspieler und Schauspielerinnen sind toll, alle on point. Heißt: Gegen eine zweite, noch bessere Staffel "Gerry Star" ist nichts einzuwenden.
infobox: "Gerry Star - Der (schlechteste) beste Produzent aller Zeiten", achtteilige Comedy-Serie, Regie und Buch: Max Wolter, Tom Gronau, Kamera: Johannes Thieme, Produktion: Pyjama Pictures, Prater Film (Amazon Prime Video, seit 10.1.25)
Zuerst veröffentlicht 23.01.2025 09:45
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Streaming), KAmazon Prime Video, Comedy-Serie, Wolter, Gronau, Krasser
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