29.01.2025 11:06
epd Geduld, darum geht es in den klassischen Dokumentarfilmen: um das genaue Beobachten und Wiedergeben. Thomas Thümena hat sich für seinen Film "Himmel über Zürich" fast drei Jahre Zeit genommen. Er drehte von 2019 bis 2022, während der Corona-Pandemie und im ersten Jahr des Ukraine-Kriegs. Ende 2022 musste er aus Geldmangel aufhören. Das Thema, die Zürcher Heilsarmee und ihre Klientel lag im Wortsinn auf der Straße. Sein Film ist eine unprätentiöse, präzise Sozialstudie über den Konflikt zwischen Utopie und Wirklichkeit.
Thümena hat für "Himmel über Zürich" starke Protagonisten gefunden. Da ist Fredi Inniger, der Offizier der Heilsarmee Zürich-Nord, der die Mildtätigkeit und Güte in Person zu sein scheint. Aufgewachsen in einer Heilsarmee-Familie, sieht er die christliche Nächstenliebe als Berufung: "Das kleinste Licht ist immer heller als die Dunkelheit." Einst war er Elektriker, nun sei er "Lichtinstallateur in einer Welt, die es sehr nötig hat".
Ein leerer Magen kann nicht gut zuhören.
Wenn Fredi Jürg, einen seiner Klienten, beim Wiedersehen umarmt wie einen alten Freund, könnten die Lebenswelten kaum weiter auseinanderliegen. Jürg kam mit vier Jahren ins Heim, die Nonnen seien nicht alle nett gewesen, sagt er. 40 bis 50 Mal ist er abgehauen, erwischt worden, dann in Isolation gesteckt worden. "Sie waren gegen mich, dann waren alle gegen mich, es war Krieg", sagt er. Später lernte er, Schlösser zu öffnen und zuzuschlagen. Die Milieu-Zeit liege aber nun hinter ihm. "Kosmische Energie hält mich am Leben", sagt er, nicht Fredis Christentum. Der Himmel? "Was nützt mir das jetzt, wenn ich hier bin?" Belehrungen oder gar Versuche ihn zu bekehren verletzen seinen Stolz: "Ein leerer Magen kann nicht gut zuhören."
Ein anderer Klient ist Josef, ein alleinstehender Rentner, dem Fredi beim Besuch einen Blumenstrauß mitbringt. Fredi nimmt Josefs Hand fest in die seine und predigt über Gottes Sohn und den Himmel. "Jaja" und "Danke", entgegnet Josef erschöpft. Später sieht man, wie er ein Stück Plastikfolie als Schuhlöffel nutzt.
Der Dokumentarfilmer hat sich offensichtlich viel Zeit genommen, um das Vertrauen seiner Protagonisten zu gewinnen. Dennoch bleibt er stets Beobachter, wird nicht zum Kumpel oder gar Duzfreund seiner Protagonisten. Der Filmtitel spielt an auf den Film "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders, doch Thümenas Zürich-Bilder sind wenig verklärend. Zürich, die kalte Bankenstadt mit Hochhaustürmen im dunklen Herbstnebel. Flugzeuge, die irgendwohin abfliegen, während Jürg, Josef oder die stumme Rollstuhlfrau Kheira und ihr Begleiter Jack lethargisch vor Supermärkten im Schneeregen ausharren.
Thümena spendiert Tram-Billets für sechs Franken, um seine Gesprächspartner zu mobilisieren. Immer wieder tauchen Bahnhöfe als Drehorte auf. Es geht ums Losfahren, aber nie ums Ankommen. Es ist eine Welt im alltäglichen Stillstand. Nie gibt es eine dramatische Szene, alles ist verhalten, erschöpft.
Nur einmal ist ein Streit unter Obdachlosen zu sehen. Die Protagonisten des Films haben sich ihre eigene Welt geschaffen, in die sie still und unbemerkt abtauchen können. Obwohl er das täglich erlebt, lässt sich Fredi nicht davon abhalten, dort christlich zu missionieren, und nicht nur mit Worten. "Hören. Beten. Hoffen. Tun." Das ist das Motto der Heilsarmee in Zürich-Nord. Auch diejenigen, die das mit dem Beten und Hoffen schon lange hinter sich gelassen haben, nehmen das christliche Angebot dankend an, vor allem an Weihnachten beim großen Ball mit Festmenü sowie anschließender Ausgabe von Päckchen und Lebensmitteln.
Der Film wertet nicht, es wird auch nicht nachgefragt, nur zugehört und zugeschaut. Die Bilder wirken für sich. Hier die dick eingehüllte Rollstuhlfahrerin Kheira, die im Schnee am Gehweg verharrt, dort die dynamischen Joggerinnen in ihrer Funktionskleidung. Hier der Obdachlose, der im Sommer an einer viel befahrenen Straße schläft, dort der Blick auf nächtliche Bürofenster-Waben mit bienenfleißigen Angestellten. "Jeder Mensch hat eine Last zu tragen", meint Fredi, "auch randständige Manager".
In einem Text zu seinem Film schreibt Thümena, dass er einmal, als er einen Bettler filmte, der an der Bahnhofstrasse seinem Tagwerk nachging, von einer Passantin angegiftet worden sei: "Ihr wollt wohl zeigen, wie böse Zürich ist!?" Er sei "einigermaßen perplex" gewesen: "Ist Zürich böse? Es ist jedenfalls ein hartes Pflaster, wenn man kein Geld hat und am Rand der Gesellschaft lebt." Der Film zeigt, dass auch Nächstenliebe harte Arbeit ist.
infobox: "Himmel über Zürich", Dokumentation, Regie und Buch: Thomas Thümena, Kamera: Stéphane Kuthy, Otmar Schmid, Gabriela Betschart, Produktion: Hugofilm Doc (3sat/SRF/ZDF, 13.1.25, 22.25-23.50 Uhr, 3sat-Mediathek bis 13.7.25 )
Zuerst veröffentlicht 29.01.2025 12:06
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), K3sat, KSRF, Dokumentation, Thümena, Dehler
zur Startseite von epd medien