05.02.2025 10:00
epd Dokumentationen über die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hat es schon mannigfach gegeben. Für diesen 80. Jahrestag des Einrückens der Roten Armee in das KZ konnte man kaum auf Neuigkeiten hoffen, aber der Jahrestag soll ja auch ein Gedenktag sein, und dafür muss sich ein Fernsehsender etwas einfallen lassen.
Auf dem Nachrichtenkanal NTV des Senders RTL lief eine Doku von 90 Minuten Länge, in der zunächst einmal der Rahmen eine strenge Ordnung aufwies, die die Orientierung erleichtern sollte. Der Film musste just am 27. Januar laufen, jenem Tag, an dem vor 80 Jahren die Befreiung tatsächlich stattfand. Der Titel "Auschwitz - Countdown zur Befreiung" wurde wörtlich genommen und der chronologische Ablauf auf dem Bildschirm immer wieder von einer Stimme unterbrochen, die mitteilte, wie viele Tage es noch seien bis zur Befreiung.
Der Sender betont die Multiperspektivität, die das Endprodukt auszeichnet: Es berichten nicht nur überlebende Häftlinge, wie man das seit Langem kennt, nicht nur Vertreter der Siegermächte etwa mittels Auszügen aus den Nürnberger Prozessen, sondern auch Soldaten der Roten Armee, also die Befreier, auch SS-Männer, die mit der Verwaltung des Lagers und dem Betrieb der Mordmaschine zu tun hatten, auch Capos, also Häftlinge, die Hilfsdienste im Lager ausführen mussten, ferner Leute, die in Auschwitz und Umgebung wohnten. Und schließlich gab es die Experten, Historiker, Museumskuratoren, die die Geschehnisse kommentierten. Es waren also nicht nur viele Stimmen, die hier die Geschichte des Vernichtungslagers erzählten, sondern ein ganzer Chor.
Es ist die Frage, ob diese Art von Multiperspektivität tatsächlich den Anspruch erfüllt, den vielen Falschinformationen und verzerrten Darstellungen, die im Netz und in sozialen Netzwerken über Auschwitz kursieren, die Wahrheit entgegenzusetzen. Die Doku hat mit der Vielstimmigkeit auch eine Atemlosigkeit in den Film hineingeholt, die es dem Zuschauer schwer macht, sich auf einzelne Zeitzeugen und Kommentatoren und so auch auf die "Wahrheit" wirklich einzulassen.
Etliche Statements dauern nur ein paar Sekunden, die meisten nicht viel länger. Die vielen Schnittbilder, darunter die wohlbekannten mit den Schuhbergen, den abrasierten Locken und anderen Hinterlassenschaften der Ermordeten, die ausgemergelten Überlebenden, die dreckigen Unterkünfte mit den rohen Stockbetten, die Schornsteine der Krematorien, die Lagerübersicht von oben, die zeigt, wie riesig dieses Gelände des Todes war - all das wird im Geschwind-Schnitt vor Augen gebracht. Dabei setzt die kommentierende Off-Stimme fast ununterbrochen Informationen ab.
Ja, man ahnt, dass alle Informationen gut recherchiert sind, dass es sich hier um eine seriöse Quelle handelt, und man weiß auch zu schätzen, dass die Geschichte der letzten Monate von Auschwitz hier von vielen Seiten angeschaut wird. Aber zugleich fragt man sich, ob diese im Stile eines Kurznachrichtendienstes runtergeratterte Bild- und Tonkaskade ihrem Gegenstand gerecht werden kann. Man hat den Eindruck, die Macher dieses Films hätten unbedingt 20 disparate Infos und noch mehr ebenso verschiedenartige Einstellungen pro Minute in ihrem Film unterbringen müssen, das sei eine unhintergehbare Vorgabe gewesen. Ein Film mit einem solchen Tempo und einer solchen Fülle an Protagonisten kann nur Atemlosigkeit, fast Luftnot erzeugen - auf beiden Seiten, unter den Machern ebenso wie im Publikum.
Dabei gibt es Gesichtspunkte, die oft zu kurz kommen, wenn über Auschwitz berichtet wird und die hier dargelegt wurden, so die Tatsache, dass es in der Region große kriegswichtige Industrien gab, in denen die Häftlinge schuften mussten. Auch dass die Lager schon vor dem 26. Januar 1945 von den Deutschen teilweise aufgelöst und die Häftlinge auf die berüchtigten Todesmärsche geschickt wurden, weil die Mörder angesichts der vorrückenden Roten Armee die Spuren ihrer Verbrechen tilgen wollten, arbeitete die Doku heraus. Und dass es im Oktober 1944 im KZ einen Aufstand gab, der sofort niedergeschlagen und mit Massenerschießungen seitens der SS beantwortet wurde, ist womöglich nicht allgemein bekannt. An all diese Ereignisse noch einmal zu erinnern, war eine Stärke des Films.
Wir fanden lebende Tote.
Der italienische Überlebende Samuel Modiano kam zu Wort, er war das letzte Kind, das Auschwitz verließ. Andere Überlebende, von denen einige ihre Interviews schon vor Jahren gegeben hatten - das wurde vermerkt - hießen Oleg Mandiç, Marian Turski, René Slotkin, Lidia Maksymowicz, Stefania Wernik, Thomas Simon, Jakob Silberberg und Paula Stern. Als kommentierende Einordner kamen der Historiker Guy Walters und Jochen Böhler, Direktor des Wiener Wiesenthal Instituts, zu Wort. Bei den Filmsequenzen aus den Archiven sind die Aufnahmen des russischen Fotografen Alexander Woronzow hervorzuheben, die mit aufwendigen Verfahren nachkoloriert wurden.
Dass sich da mit Hans Friedrich, Karl-Heinz Liesenberg und Eberhard Eder SS-Männer äußerten, war eine Überraschung. Liesenberg sagte, dass er es nicht ertragen habe, auf Frauen und Kinder schießen zu müssen: Man weiß aber nicht, ob das bloß eine Schutzbehauptung war oder wirklich stimmte. Und da auch die "Bösen" in diesem Film nur wenige Sekunden für ihre Statements bekamen, trugen sie nicht wirklich etwas zur Wahrheitsfindung bei. Als dann die Rote Armee ins Lager kommt, erkennen die Häftlinge nicht gleich, dass diese Soldaten auf ihrer Seite sind und erstarren vor Angst. "Wir fanden lebende Tote", sagte Alexander Woronzow.
Als Film, der eine Geschichte erzählt und sein Publikum in die Handlung hineinzieht, ist "Auschwitz - Countdown zur Befreiung" an der Überfülle gescheitert. Als Behältnis für eine große Menge zeitlich geordneter Ton- und Bilddokumente hat er seine Verdienste.
infobox: "Auschwitz - Countdown zur Befreiung", Dokumentation, Regie: Max Serio, Buch: Paolo Nigro, Kamera: Tomas Lipsky, Ondrej Lilling, Kamil Malecki u. a., Produktion: Picasso Film (NTV/RTL/TVP 27.1.25, 20.15-22.05 Uhr, RTL+ seit 27.1.25)
Zuerst veröffentlicht 05.02.2025 11:00
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KNTV, KRTL, Dokumentation, Serio, Nigro, Sichtermann.
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